Zöliakie — Hannelore Kraft fand ihre Diagnose selbst Die Krankheit, die keiner erkannte

Düsseldorf · Ministerpräsidentin Hannelore Kraft leidet seit langem an einer heimtückischen Krankheit: Zöliakie – einer Nahrungsunverträglichkeit, die selbst gute Ärzte oft vergessen. Sie stellte ihre eigene Diagnose durch das Internet. Diät hilft ihr, das Leben zu meistern.

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft leidet seit langem an einer heimtückischen Krankheit: Zöliakie — einer Nahrungsunverträglichkeit, die selbst gute Ärzte oft vergessen. Sie stellte ihre eigene Diagnose durch das Internet. Diät hilft ihr, das Leben zu meistern.

Warum will sie jetzt all diese leckeren Sachen nicht essen, die wir ihr servieren? Warum mag sie kein Brot, keine Nudeln, keine Pizza, keine Fertiggerichte? Warum bringt sie neuerdings immer eine eigene Brotdose mit? Ist sie denn keine Frau aus dem Volk, die isst, was auf den Tisch kommt?

So sprachen und sprechen einige Leute über eine Politikerin, von der kaum jemand weiß, dass sie eine tückische Krankheit hat — sie selbst wusste es lange auch nicht. Jahrzehnte aß Hannelore Kraft, SPD-Landesvorsitzende und Fraktionschefin im Düsseldorfer Landtag, was auf den Tisch kam — aber sobald gewisse Sachen dabei waren, fühlte sie sich unwohl, bekam Schmerzen, eine Entzündung der Speiseröhre, ein Magengeschwür, Durchfälle. Früh fanden die Ärzte einen Eisenmangel und gaben ihr Tabletten. Sie schluckte sie zehn Jahre lang, aber besser wurde es nicht. Hatte es mit dem Politiker-Stress zu tun? Einmal brach sie nach einem Essen fast zusammen. Die Ärzte waren ratlos.

Sie fand ihre Krankheit selbst heraus

Jetzt weiß Hannelore Kraft, woran sie leidet und lebenslänglich leiden wird. Bei einer Recherche im Internet fand sie selbst die Krankheit, die kein einziger Arzt bei ihr vermutet hatte: Zöliakie, auch Sprue genannt. "Als ich die Infos auf der Seite der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft las, da wusste ich: ,Bingo, das habe ich!'" Die Bluttest waren leider sehr eindeutig: Sie hatte die höchste Krankheitsstufe. Bei Zöliakie besteht eine schwere Unverträglichkeit von Klebereiweiß, das auch "Gluten" genannt wird. Dieses Gluten kommt in Getreide- und Gräsersorten vor, etwa Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel. Da die Lebensmittelindustrie Roggen-Weizen-Extrakte als Geschmacksverstärker nutzt, sind nahezu 95 Prozent unserer Lebensmittel glutenhaltig.

Klaus Dominick, Oberarzt am Mönchengladbacher Franziskus-Krankenhaus und selbst Zöliakie-Patient, weiß genau, wovon er spricht: "Je nach Menge des zugeführten Klebereiweißes zerstört der Körper seine eigenen Darmzellen, da sich deren Oberfläche nach Aufnahme von Gluten so verändert, dass sie von den Abwehrzellen als ,fremde Zellen' eingeordnet werden. Wie bei einer Abstoßung eines transplantierten Organs wird die Zelle vernichtet. Es handelt sich also um eine genetische Situation, die sich von außen nicht durch Tabletten oder eine Operation ändern lässt. Einzige Therapiemöglichkeit: lebenslange, glutenfreie Diät."

Ernährungsumstellung geht ins Geld

Darauf wird sich auch Hannelore Kraft einstellen müssen; jetzt, da sie ihre Krankheit beim Namen kennt, kann sie aktiv handeln. Sie lässt gewisse Speisen einfach weg, Gemüse geht gut, Obst auch, und "ein Steak darf ich immer essen". Aber ihr Brot muss sie sich stets eigens backen lassen. In guten Restaurants kann sie relativ sicher sein, dass Soßen nicht mit Billigprodukten aus der Tüte angedickt werden. "Zöliakie ist keine Krankheit für Arme", sagt Kraft seufzend. "Wie sollen Hartz-IV-Empfänger damit überleben können?"

Zöliakie weist eine hohe Dunkelziffer auf. Epidemiologen schätzen, dass auf 300 bis 400 Menschen in Mitteleuropa ein Zöliakie-Fall kommt. In Skandinavien ist das Verhältnis sogar 1:100. "Es gibt ein deutliches Nord-Süd-Gefälle bei Zöliakie", sagt Dominick. "Wer in ein finnisches Restaurant geht, hat auf der Speisekarte immer einen separaten Teil mit glutenfreien Speisen. Bei uns denkt kein Mensch daran, dass es diese Krankheit gibt." Die meisten Ärzte haben Zöliakie seit dem Medizinexamen in den tiefsten Gehirnregionen abgelegt.

Ernährungsspezialistin in eigener Sache

Ihre Köche muss Hannelore Kraft stets nach den Inhaltsstoffen der Gerichte fragen, "ich bin in den letzten Monaten richtig zur Ernährungsspezialistin geworden". Solche Kompetenz erlangen Zöliakie-Kranke automatisch, denn sie müssen sich mit Lebensmittelkunde auseinandersetzen, weil vor allem das versteckte Gluten Probleme macht. "Wer vermutet schon in Fischkonserven, Lakritze oder Frühstückssäften Weizenmehl?", sagt Dominick.

Zöliakie (Sprue) zeigt sich selten in einer typischen Konstellation: Kleinkind mit aufgeblähtem Bauch, Gedeihstörungen und Durchfällen. Häufiger ist der atypische Verlauf: Erwachsene, die von Hausärzten lange mit "funktionellen Bauchschmerzen" erfolglos therapiert werden oder die nur ein einziges Symptom haben, hinter dem aber keine definitive Krankheit vermutet wird (etwa Zahnschmelzdefekte, Blutarmut, Knochenschmerzen, Krämpfe).

Zöliakie-Symptome sind Zeichen von Mangelernährung; so fehlt bei einer unerklärbaren Blutarmut dem Knochenmark ausreichend Eisen. Dieses kann über eine stark verminderte Dünndarmoberfläche nicht mehr ausreichend aus der Nahrung resorbiert werden. Da ein Mensch mit etwa 100 Quadratmetern Dünndarmoberfläche ausgestattet ist, aber mit deutlich weniger auskommt, können sich manche Symptome vor allem aus dem Magen-Darm erst spät entwickeln. Bei 40 Prozent der Patienten liegen keinerlei Symptome aus dem Magen-Darmbereich vor.

So wird Glutenunverträglichkeit diagnostiziert

Bei Diagnoseverdacht sollte ein Bluttest durchgeführt werden (IgG-Anti-Transglutaminase), zur Diagnosesicherung muss eine Probe aus dem oberen Dünndarm entnommen werden. Manche Krankheiten sind mit Zöliakie vergesellschaftet, wie beispielsweise Diabetes mellitus Typ I, manche Hauterkrankungen oder genetische Syndrome, etwa Down- oder Turner-Syndrom. "Hier sollte", rät der Internist Dominick, "in jedem Fall ein Screening durchgeführt werden."

Hannelore Kraft geht es, seitdem sie ihre Krankheit kennt und durch gezielte Diät behandelt, besser als je zuvor: "Ich fühle mich phantastisch und habe neue Energie gewonnen. Das Leiden hat ein Ende!" Längst ist sie Mitglied der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft und setzt sich aktiv dafür ein, dass die Krankheit bekannter wird.

Auf ihrem Bürotisch in der SPD-Fraktion des Landtags liegen übrigens stets frische Bananen. Hat sie selbst mitgebracht. "Garantiert glutenfrei", zwinkert sie. Auch morgen wird sie wieder kraftvoll und angstfrei zubeißen können.

(RP/das)
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