Düsseldorf Eine Nacht in der Tarif-Kampfzone

Düsseldorf · Für gewöhnlich sind Lohnverhandlungen streng abgeschottete Veranstaltungen. Doch die IG Metall machte für unsere Redaktion eine Ausnahme. Protokoll einer langen, entscheidenden Nacht mit der Verhandlungskommission Stahl.

In der Esprit-Arena sind die Techniker mit Vorbereitungen beschäftigt. Drei Tage sind es noch bis zum Box-Event, aber schon jetzt ist das angeschlossene Hotel Tulip Inn Austragungsort für ein hitziges Gefecht: Statt Wladimir Klitschko gegen Tyson Fury heißt es IG Metall gegen Arbeitgeberverband Stahl. Es ist die dritte und entscheidende Verhandlungsrunde für die westdeutsche Stahlindustrie.

Die Ausgangslage ist aus Gewerkschaftssicht denkbar schlecht. Viele Unternehmen schreiben rote Zahlen, Kurzarbeit ist keine Seltenheit. Grund ist vor allem die aggressive Dumping-Konkurrenz aus China.

Auf der anderen Seite gibt es Konzerne wie Thyssenkrupp, der gerade ein Ergebnis von 514 Millionen Euro erzielt hat. So einen ausgewogenen Abschluss hinzubekommen, gleicht der Quadratur des Kreises.

Es ist 16.20 Uhr, als die Parteien aufeinandertreffen. Rund 50 Gewerkschafter, einige in Stahlarbeiter-Montur, haben sich ihren Weg durch die verwinkelten Hotelgänge gebahnt, vorbei an verdutzten BASF-Mitarbeitern, die hier zu einer Schulung sind. Vor dem Sitzungssaal der Arbeitgeber kommt der Trupp zum Stehen. Üblicherweise organisiert die IG Metall bei Verhandlungen Großkundgebungen vor den Hotels. Doch die Polizei hatte mit Hinweis auf die jüngsten Ereignisse und die eigene Überlastung gebeten, auf Zusammenkünfte zu verzichten.

Also alles ein bis zwei Nummern kleiner: Die Gewerkschafter drücken Andreas Goss, Verhandlungsführer und zugleich Vorstandschef von Thyssenkrupp Steel, eine metallene Uhr in die Hand. Ein Zeiger fehlt, der andere steht auf der Fünf. Das symbolisiere gleich mehrere Dinge, erklären sie: Um fünf Uhr nachmittags beginnen die Verhandlungen, sie wollen fünf Prozent mehr Geld, es sei fünf vor zwölf, und bis fünf Uhr in der Früh müsse eine Lösung her. "Wir hätten das Ganze auch in 90 Minuten ausspielen können", scherzt Salzgitter-Chef Jörg Fuhrmann. Am Ende werden es mehr als 660 Minuten.

16.25 Uhr. Der Gewerkschafts-Tross ist zurück im Sitzungssaal "Fortuna" vier Ebenen tiefer. NRW-Bezirksleiter Knut Giesler, adretter blauer Anzug, rote Krawatte, leitet die Verhandlungen. "Ich schlage vor, dass wir direkt mit einer kleinen Runde, also acht Leute auf jeder Seite, starten", sagt er. Ungewöhnlich, denn üblicherweise entsenden beide Seiten zu Beginn große Teams, die dann von Treffen zu Treffen kleiner werden. Doch Giesler drückt aufs Tempo, "zumal der Flurfunk sagt, dass das Angebot der Arbeitgeber wenig Gutes enthält." Um 17.25 Uhr macht sich das Team auf den Weg. Der Aufzug neben dem Saal hat inzwischen den Geist aufgegeben. Der Tross nimmt den Umweg durch die Tiefgarage. Nur eine von vielen Unwägbarkeiten an diesem Abend.

Für den Rest heißt es warten. Auf die Frage, ob die Zeit auch mal mit Bier oder Rotwein überbrückt werde, Kopfschütteln. "Dann hält man die Verhandlungen nicht konzentriert durch", sagt Arcelor-Mittal-Betriebsrat Uwe Scharnberg. Doch zumindest für einen Teil des Abends ist für Unterhaltung gesorgt: Per Beamer wird das Champions-League-Spiel Gladbach-Sevilla gezeigt.

Es ist 18.49 Uhr, als die Verhandler zurück zur Gruppe stoßen, die gerade im Hotel-Restaurant zu Abend isst. Schon von Weitem ist den Gesichtern anzusehen: Gieslers Befürchtungen waren berechtigt. "1,4 Prozent für 15 Monate", raunt einer seinen Kollegen zu.

19.30 Uhr. Im Saal "Fortuna" ist es still. Giesler hat sein Jackett abgelegt, die Ärmel hochgekrempelt. Über inoffizielle Kanäle soll den Arbeitgebern signalisiert werden: Das Angebot ist Murks, ein Vier-Augen-Gespräch muss her.

21.15 Uhr. Das Wirken der Diplomaten zeigt Wirkung. Goss und Giesler treffen in dessen Hotelzimmer zusammen. Der IG-Metall-Chef hat drei Vorschläge dabei: einen Tarifvertrag mit acht Monaten Laufzeit, einen, bei dem Firmen in Notlage abweichen können, und einen mit langer Laufzeit und höheren Beträgen. Goss und Giesler trennen sich.

Für die Gewerkschafter beginnen quälende Stunden. Vor dem Saal werden zahllose Zigaretten geraucht, im Saal wird eine Tasse Kaffee nach der anderen getrunken. Giesler scherzt hier, spricht dort. Demonstrative Gelassenheit. 90 Minuten nach Abpfiff des Spiels bitten die Arbeitgeber um ein Vier-zu-vier-Gespräch. Als die Delegation nur 15 Minuten später zurückkehrt, ahnen die Anwesenden nichts Gutes. Versteinert nimmt Giesler Platz. Die Arbeitgeber haben ein Gegenangebot gemacht: zwei Jahre Laufzeit, eine Einmalzahlung von 150 Euro, 13 Monate 1,8 Prozent mehr Lohn, dann neun Monate 0,8 Prozent mehr.

Was folgt, ist die wohl hitzigste Diskussion der Nacht. War das Scheitern bislang eher Druckmittel, wird es jetzt realistische Option. Um ein Uhr trifft Giesler erneut Goss. Es ist der kritischste Moment, das haben auch die Arbeitgeber begriffen. Das Angebot wird nachgebessert. Gespräch folgt auf Gespräch. Die unterschiedliche wirtschaftliche Situation der Firmen tritt offen zutage. Gewerkschafter aus solventen Konzernen machen Druck, fordern mehr. Die anderen bitten um Maßhalten.

Um 3.55 Uhr stellt ein müder Giesler das Verhandlungsergebnis (Grafik), "das nix für die Applauskurve ist", zur Abstimmung. Die Kommission stimmt zu. "Ab jetzt darf ein Bier getrunken werden", sagt er und macht sich auf den Weg, um den Arbeitgebern die Kunde zu überbringen. Als hätten sie es mit der metallenen Uhr prophezeit: Um kurz vor fünf Uhr ist der Tarifspuk vorbei.

(maxi)
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