20 Jahre nach Brandanschlag: Gedenkfeiern in Solingen "Der tiefe Schmerz ist immer noch da"

Solingen · Bei dem Brandanschlag von Solingen, der sich heute zum 20. Mal jährt, starben fünf türkische Frauen. Die Opferfamilie Genç lebt immer noch zurückgezogen in der Stadt. Heute trauert Solingen offiziell – und setzt auf Bürger-Engagement.

 Angehörige bei der offiziellen Trauerfeier im Juni 1993.

Angehörige bei der offiziellen Trauerfeier im Juni 1993.

Foto: dpa

Bei dem Brandanschlag von Solingen, der sich heute zum 20. Mal jährt, starben fünf türkische Frauen. Die Opferfamilie Genç lebt immer noch zurückgezogen in der Stadt. Heute trauert Solingen offiziell — und setzt auf Bürger-Engagement.

Das Bild zeigt eine fröhliche junge Frau, die voller Lebenspläne ist. Nach der mittleren Reife wollte Hatice Bankkauffrau werden. Doch die Hoffnungen des Mädchens wurden für immer zerstört. Am 29. Mai 1993 wurde Hatice Genç eines der Opfer des Solinger Brandanschlags. Ihre Mutter Mevlüde Genç weinte gestern, als sie das Foto ihrer damals erst 18-jährigen Tochter bei einer Gedenkfeier in der Aula der früheren Schule des Mädchens sah. "Der Schmerz ist immer noch da — auch nach all den Jahren", sagte die 70-Jährige.

Heute jährt sich der Brandanschlag von Solingen zum 20. Mal. Vier Rechtsradikale zündeten im Mai 1993 das Haus der türkischstämmigen Familie Genç an. Fünf Frauen und Mädchen starben damals in den Flammen. Das jüngste Opfer war gerade erst drei Jahre alt, das älteste 27. Mevlüde Genç verlor in der Tatnacht zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Acht weitere Menschen, die in dem Haus der Familie schliefen, wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt.

Täter wieder auf freiem Fuß

Der Brandanschlag von Solingen — er war der schreckliche Höhepunkt in einer ganzen Reihe von fremdenfeindlichen Übergriffen, die Anfang der 90er Jahre das Land erschütterten. Vor den Morden in der 160 000-Einwohner-Stadt im Bergischen Land waren bereits in Hoyerswerda, in Rostock und in Mölln Ausländer verletzt und getötet worden. Doch die Tat von Solingen wirkt bis heute mit am stärksten nach. Und die Stadt muss seitdem mit dem Makel des Anschlags leben.

Die vier Täter wurden zwei Jahre später zu langen Haftstrafen verurteilt. Inzwischen sind alle wieder auf freiem Fuß. Mevlüde Genç sagt heute: "Ich wünsche mir, dass Gott den Tätern vergibt."

Die Familie entschloss sich nach den Morden, in Solingen zu bleiben. Am Ort des Anschlags erinnern heute eine Gedenktafel und fünf Kastanien für die fünf Opfer an die Tat. Mit Hilfe der Versicherungssumme und von Spenden bauten die Gençs später ein neues Haus. Es liegt an einer vielbefahrenen Straße in einer dicht bebauten Wohngegend Solingens — und als es wenige Jahre nach dem Brandanschlag errichtet wurde, war einer der Architekten die Furcht. Ein zwei Meter hoher Stahlzaun, der elektrisch öffnet und schließt, riegelt das Grundstück ab. Der genaue Standort soll nicht bekannt gegeben werden. Denn in der Stadt ist die Angst davor, dass sich alles noch einmal wiederholen könnte, immer noch groß.

Narben bis ans Lebensende

Zusätzlich hat die Familie das Gebäude durch eine Alarmanlage und eine Videokamera gesichert. Mevlüde Genç (70) und ihr Mann Durmus (69) meiden — jenseits offizieller Termine — die Öffentlichkeit. Doch immerhin betont Mevlüde Genç inzwischen, sie habe keine Angst mehr vor einem neuen Angriff.

Ihr Sohn Bekir ist öfters in Solingen unterwegs. Das liegt allerdings auch an seiner Arbeit. Der 35-Jährige ist bei der Stadt angestellt und arbeitet bei der mobilen Geschwindigkeitsüberwachung. In der Nacht des Anschlages entkam der damals 15-jährige Bekir Genç nur durch einen Sprung aus einem Fenster den Flammen. Seine Haut verbrannte zu 36 Prozent, sein Schädel war gebrochen. Bis an sein Lebensende wird er von den Narben in seinem Gesicht gezeichnet bleiben.

Dennoch ist Bekir Genç ein Mann mit einem freundlichen Lächeln, wenn er heute durch Solingen geht. Nur reden will er nicht mehr über den Brandanschlag — zumindest nicht öffentlich. Nach der Tat musste Bekir Genç unzählige Operationen über sich ergehen lassen. Das Leben, das er bis zu jenem 29. Mai 1993 geführt hatte, schien für immer vorbei. Die schlimmsten seelischen Folgen hat er inzwischen zwar überwunden. Doch bis heute benötigt er psychologische Hilfe. Einige Jahre nach der Tat heiratete Bekir Genç eine junge Frau aus der Türkei. Das Paar hat inzwischen selbst Kinder, die wie ihr Vater in Solingen geboren wurden.

Die Stadt versucht gegen Hass immun zu machen

Auch die Stadt versucht bis heute, den Brandanschlag zu verarbeiten. Direkt nach den Morden zettelten türkische Randalierer, die aus ganz Deutschland nach Solingen gekommen waren, Straßenschlachten an. Tagelang glich die Stadt vor 20 Jahren einem Bürgerkriegsschauplatz.

Aus dieser Erfahrung heraus gründeten sich in Solingen schon kurz darauf zahlreiche Initiativen, die sich seitdem für die Verständigung starkmachen. Inzwischen bezeichnet sich die Stadt, in der jeder Dritte ausländische Wurzeln hat, stolz als "Integrationsstadt". Und im vergangenen Jahr wurde nach langen Diskussionen sogar ein Platz nach dem türkischen Dorf Merçimek, dem Heimatort der Gençs am Schwarzen Meer, benannt.

Solingens Oberbürgermeister Norbert Feith (CDU) will vor allem die junge Generation gegen Hass immun machen. "Wer schon als Kind andere Kulturen erlebt, ist später weniger anfällig für Vorurteile", sagt Feith. Solingen trage bis heute schwer an dem Erbe des Brandanschlags, "aber wir haben es angenommen", so Feith. Sorgsam entwickelt die Stadt ein neues Selbstverständnis. Denn gerade zu Jahrestagen wird der unliebsame Vierklang vermeintlicher "Nazi-Hochburgen" wieder laut: Hoyerswerda, Rostock, Mölln — und eben Solingen.

Dem kann sich die Stadt nicht entziehen. Sie weiß, dass nur das Engagement der Bürger für ein neues Solingen-Bild sorgen kann. Hans-Werner Bertl, der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete, steht in der ersten Reihe, wenn "Bunt statt Braun" — ein Bündnis aus 59 Gruppen — gegen rechte Agitatoren auf die Straße geht. So am 1. Mai 2012, als Pro NRW als Plattform für antiislamische Provokationen Solingen aussuchte. "Uns stehen längst keine kahlgeschorenen Schädel mehr gegenüber", sagt Bertl, "sondern Rechtsanwälte."

Jäger fordert weiterhin NPD-Verbot

Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) hat unterdessen seine Forderung nach einem Verbot der rechtsextremen NPD bekräftigt. "Wir haben schon einmal historisch den Rechtsextremismus unterschätzt in unserer Geschichte", sagte Jäger am Mittwoch im RBB-Inforadio. Er würde rechtsextreme Parteien auch nicht an deren Mitgliederstärke oder deren Finanzvolumen messen wollen, "sondern eher an ihrer gesellschaftspolitischen Gefahr". Daher glaube er, dass der Staat mit einem Verbot auch ein Zeichen setzen könne.

(RP/pst/das/top/felt)
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