Solingen Sebastian will endlich ankommen

Solingen · Schon elfmal musste der 27-jährige Sebastian Marchand umziehen. Der junge Mann leidet unter dem Tourette-Syndrom. Die damit verbundenen Tics lassen ihn schreien, zucken, manchmal auch fluchen. Jetzt verlangt sein letzter Vermieter Schadenersatz vor Gericht.

Gerne liest Sebastian Marchand abends noch ein Buch oder hört Musik. Wenn er von seinem Leben erzählt, hört man von typischen Dingen, die junge Menschen in diesem Alter machen. Und doch führt der 27-jährige Erzieher ein ganz und gar untypisches Leben. Mitten im Gespräch beginnt er unkontrolliert zu zucken, gibt undefinierbare Laute von sich, schlägt sich gegen das Gesicht. Typische Anzeichen seiner unheilbaren Krankheit: dem Tourette Syndrom.

"Er schreit mit 160 Dezibel", sagt sein langjähriger Betreuer Hartmut Wieck vom Diakonischen Werk des evangelischen Kirchenkreises Solingen. Und genau das bringt dem jungen Mann immer wieder Schwierigkeiten mit Nachbarn und Vermietern ein. Dass sich Menschen über den Lärm beschweren, können sowohl Sebastian Marchand als auch sein Betreuer verstehen, doch die Tatsache, dass ihn sein letzter Vermieter jetzt vor Gericht bringt, macht beide fassungslos. Der Vermieter macht Mietausfälle geltend, weil ihm andere Mieter mit Kündigung gedroht haben. Fast 4000 Euro soll der junge Mann, der eine Teilzeitstelle als Erzieher im Offenen Ganztag hat, bezahlen. "Und das, obwohl ich eigentlich nur zwei Wochen dort gewohnt habe", erzählt Sebastian Marchand, der allerdings auch einräumt: "Ich habe dem Vermieter nichts von meiner Behinderung gesagt, aber nur aus Angst, die Wohnung nicht zu bekommen", erklärt der 27-Jährige. Hinzu sei der Umstand gekommen, dass das Haus an der Weyerstraße extrem hellhörig gewesen sei.

Hartmut Wieck wünscht seinem Schützling sehr, dass er endlich zur Ruhe kommt, denn auch das Haus, das er jetzt mit seiner Freundin anmieten konnte, ist keine Bleibe auf Dauer, es soll in einem Jahr abgerissen werden.

Die Entwicklung, die Sebastian Marchand durchlaufen hat, ist bemerkenswert, wie sein Betreuer berichtet. Trotz seiner Behinderung schaffte er den Hauptschulabschluss, besuchte eine weiterführende Schule, die mit dem Fachabitur endete, und durchlief eine Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher. Heute arbeitet er 25 Stunden wöchentlich an den Schulstandorten Kreuzweg und Lehner Straße und betreut dort insgesamt 115 Kinder. "Ich helfe bei den Hausaufgaben in den dritten und vierten Klassen und wir haben eine Trommel-AG, die sogar einmal im Jahr öffentlich auftritt", erzählt Sebastian Marchand nicht ohne Stolz. "Kinder sind überhaupt die neutralsten Menschen. Die fragen kurz, was ich habe und ob das ansteckend sei und danach gehen sie ganz normal mit mir um", schildert der Erzieher seine Erfahrungen.

Ähnlich positiv reagierten die Menschen bislang nur, als er sich mit seiner Freundin im Kino den Film "Vincent will Meer" ansah, in den Florian David Fitz einen am Tourette-Syndrom erkrankten Jungen spielt. "Die Leute haben verständnisvoll auf meine Tics reagiert, obwohl manche wohl dachten, ich spiele das alles nur", erinnert sich Sebastian Marchand an den Kinobesuch. "Normalerweise ist es für ihn schwer, eine Kinovorstellung zu besuchen, denn dort fühlen sich manche gestört durch sein Verhalten", weiß Betreuer Hartmut Wieck, der sich einen verständnisvollen Umgang mit der Behinderung von Sebastian wünscht. Gleichwohl kann er nachvollziehen, wenn Menschen irritiert sind von der seltenen Form der seelischen Störung.

Verständnis für die Nachbarn

Auch Sebastian Marchand kann nachvollziehen, wenn es die Nachbarn stört, dass er nachts mit den Füßen auf den Boden stampft und unmotiviert zu schreien beginnt. "Für mich ist das eine totale Gratwanderung", sagt der 27-Jährige und fügt mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: "Über einer Disco, zu wohnen, wäre wahrscheinlich die Lösung." Zu seinem Prozess wünscht sich Sebastian Marchand viele Zuschauer, die sich mit seinem Problem auseinandersetzen.

Verhandlung der Mietstreitigkeit am Donnerstag, 12. Januar, um 11.30 Uhr vor dem Amtsgericht Solingen.

(RP)
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