Soziale Netzwerke (H)ello Zukunft

Düsseldorf · "ello" will eine Alternative zu Facebook sein – mit Datenschutz, ohne Werbung, trotzdem gratis. Die Zeit dafür scheint reif, zumal sich Facebook gerade selbst demontiert. Eine Utopie im Praxistest.

Schön (leer) hier – erste Impressionen vom Sozialen Netzwerk ello
11 Bilder

Schön (leer) hier – erste Impressionen vom Sozialen Netzwerk ello

11 Bilder

"ello" will eine Alternative zu Facebook sein — mit Datenschutz, ohne Werbung, trotzdem gratis. Die Zeit dafür scheint reif, zumal sich Facebook gerade selbst demontiert. Eine Utopie im Praxistest.

Paul Budnitz hält nichts von Bescheidenheit. "I create beautiful things that change the world." steht im Benutzerprofil des 47-jährigen Kaliforniers bei ello — und nach Edel-Fahrrädern und Roboter-Kunstwerken soll nun ello selbst eines dieser Dinge sein.

Hinter ello verbirgt sich vieles. Ein Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln (ello.com), Telekommunikations-Software (ello.net), ein italienisches Dorf, Kult-LKWs aus der DDR (Wikipedia). Und Budnitz' ello — das werbefreie Soziale Netzwerk ello.co, für das nur noch die Länderkennung von Kolumbien übrig war.

Auf schlichte Art schick, aber noch weitgehend funktionslos

Es ist seit knapp einer Woche das mit Abstand populärste aller möglichen ellos. Weltweit berichten die Medien und reißen sich Menschen um die exklusiven Einladungen, ohne die man nicht Mitglied werden kann. Eine Million sollen derzeit auf Wartelisten stehen — und das, obwohl der von einem Freundeskreis aus Designern und Künstlern gegründete Plattform derzeit noch wesentliche Funktionen fehlen.

Schick ist ello allerdings, auf eine fast schon vulgär schlichte Art: alles sieht aus wie auf einem sehr großen Blatt Papier von einem sehr faulen Zeichner mit Bleistift, Lineal und Zirkel konstruiert. Sämtlicher Text kommt in Retro-Schreibmaschinen-Optik daher. Fotos wirken in dieser Umgebung umso brillanter.

Zunächst irritiert die Abwesenheit der gewohnten, still erlittenen Reizüberflutung durch Farben, Formen, ständig animierte Newsfeeds und Werbebanner, aber bald schon wirkt Facebook gegenüber ello wie eine besonders geschmacklose Kirmes vor den Toren einer skandinavischen Designausstellung. Budnitz erklärt, dass das kein Zufall ist: "Wir haben die hässlichsten, geschmacklosesten Inhalte aus dem Internet gefischt und dann so lange am Design geschraubt, bis selbst dieses Zeug bei ello gut aussah."

Das Lesen, Schreiben und inzwischen auch Kommentieren von Beiträgen funktioniert, noch unmöglich sind aber das Zitieren ("Teilen") oder der Ausdruck von Zustimmung (Facebook: "like", bei ello in Zukunft: "love"). Animierte .GIF-Bildchen lassen sich einbetten, Video- und Audiodateien noch nicht. Irritierender: vom "Erfolg" eigener Inhalte erfährt der Nutzer, anders als etwa im Facebook-Hauptmenü, überhaupt nichts und auch ein System für den Austausch privater Nachrichten fehlt noch komplett.

ellos Reiz liegt darin, was sein könnte

Aber ello ist eben noch in der Beta- also Testphase. Und sein Reiz liegt ohnehin nicht darin, was es kann oder ist, sondern darin, was es in nicht allzu ferner Zukunft können und sein könnte; morgen, übernächste Woche, in drei Monaten — nämlich eine bessere Alternative zu Facebook. Dem beispiellosen wirtschaftlichen und kulturellen Phänomen, das Mediennutzung und Kommunikation, ja den Alltag der meisten seiner rund 1,3 Milliarden Nutzer nachhaltig verändert hat. Dem ehemaligen Startup, das es sich als fünftwertvollstes Unternehmen der Welt längst locker leisten kann, für Milliarden Dollar andere Digital-Riesen wie Instagram (Fotos) und WhatsApp (Kurznachrichten) aufzukaufen.

Was wurde aus Myspace und Co. ?
6 Bilder

Was wurde aus Myspace und Co. ?

6 Bilder

Selbstverständlich hat es bereits andere Versuche gegeben, Facebook zu beerben. Doch Diaspora und App.net sind gescheitert, bevor sie groß genug werden konnten, um das Interesse der ersten paar Tausend Mitglieder hochzuhalten. Google Plus hat ist ausgereift, schaffte es aber trotz oder gerade wegen seiner Vernetzung mit anderen Google-Diensten wie YouTube nie in den Mainstream. Wie hätte es auch? Weil es ziemlich genau dasselbe bietet wie Facebook und ebenso gierig nach persönlichen Daten ist, hat es weniger Nutzer — nur ein Bruchteil der offiziell 300 Millionen User ist regelmäßig aktiv.

Facebook wächst derweil immer weiter — und läuft dabei Gefahr, dem "Imperial Overstretch" zum Opfer zu fallen, also unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen, zu scheitern an zu viel Macht, zu viel Gier, zu viel Arroganz. In den vergangenen Tagen hat der Quasi-Monopolist gleich zwei Ziele verfolgt, die den Anfang seines Endes bedeuten könnten: Erst hat Facebook massenweise Nutzer gesperrt, die nicht unter ihrem Geburtsnamen registriert hatten — und damit Künstler sowie Menschen vergrätzt, die etwa wegen ihrer Sexualität aus Angst vor Mobbing und Gewalt unter Pseudonym auftraten.

Dann hat Facebook eine Tochterfirma namens Atlas eröffnet, die die Daten seiner "restlichen" hunderte Millionen Nutzer weiterverkauft. So kann ab sofort jeder Facebook-User auch außerhalb des Netzwerks mit Werbung bombardiert werden, die so unheimlich zielgenau ist, weil der Konzern jeden Klick und jedes Wort auswertet. Diese hyper-effektive Werbung blüht uns nun potenziell auf jeder Website und in jeder App und egal, mit welchem Gerät wir online sind — Computer, Tablet, Smartphone... Im übertragenen Sinne hatte uns Facebook schon länger verfolgt, nun tut es der Konzern auch buchstäblich.

Nicht nur Leser der Digital-Dystopie "Der Circle" dürfte, sollte, müsste das beklemmen, sondern uns alle.

Bisher blieben alle bei Facebook — weil auch alle anderen blieben

Aber, und das ist ein großes aber, Facebook ist ja so unvergleichlich bequem. Es erlaubt die umfassendste Selbststilisierung aller Zeiten, aber auch die größtmögliche virtuelle Nähe zur besten Freundin in Bayern und der ehemaligen Gastfamilie in Neuseeland. Es ersetzt Telefonbuch, Geburtstagskalender, Fotoalbum, es ist Plattform für die Vermittlung aller Gefühle von A wie Aufmerksamkeit bis Z wie Zuspruch. Und das alles scheinbar gratis. Weil wir eben nicht in harten Euro zahlen, sondern mit der Vielzahl unseren kleineren und größeren Vorlieben, Emotionen, Beziehungen.

Was alle 60 Sekunden im Internet passiert
20 Bilder

Was alle 60 Sekunden im Internet passiert

20 Bilder
Foto: afp, JOHN MACDOUGALL

Wer von unseren Freunden, Bekannten, Vorgesetzten was davon sehen darf, dürfen wir gnädigerweise jeweils einstellen (vorausgesetzt, man ist nicht sogar dafür zu bequem) — Facebook selbst allerdings offenbaren wir alles.

Der Konzern speichert selbst die Nachrichten, die wir im letzten Moment doch noch gelöscht haben, anstatt sie abzuschicken. Und manipuliert fröhlich unsere Gefühlslage, indem er für eine psychologische Studie vorsätzlich den Algorithmus ändert, der entscheidet, welche Inhalte wir zu sehen bekommen.

Und doch bleiben wir da; nur die wenigsten boykottieren Facebook noch oder verlassen es wieder. Der Grund ist simpel: Alle bleiben da, weil alle anderen auch da bleiben. Gegen diese mächtige Dynamik muss ello ankommen, wie jeder andere Herausforderer auch. Noch ist der Hype um ello nicht mehr als eine Feel-good-Story Marke gegen Goliath. Die Chancen auf mehr allerdings stehen außergewöhnlich gut, das Timing ist günstig wie nie zuvor, in US-Medien ist die Rede von einem "perfect storm", den idealen Bedingungen für die Geburt von etwas ganz neuem Großen.

ello will einen Neuanfang mit Werten statt Werbung

Momentan strömen die Massen zu ello, zehntausende pro Stunde angeblich. Nichts Genaues weiß man nicht, außer, dass der Marketing-Gag zum Start gelungen ist: Eintritt nur mit Einladung. Der positive Nebeneffekt ist, dass der Zustrom so gedeckelt wird und man das Wenige, das von ello derzeit zu sehen und zu erleben ist, ziemlich zuverlässig zu Gesicht bekommt, weil die Server noch mithalten.

Facebooks Server werden derweil kaum entlastet, unter anderem weil ein Großteil der Debatte über ello bei Facebook stattfindet. Nirgendwo anders dürften auch mehr Einladungen verteilt werden.

Unbestritten ist: ello trifft einen Nerv. Seine Gründer beschwören ihre Andersartigkeit schon in einem radikalen Gründungs-Manifest — pathetisch, aber wahrhaftig. Jeder Idealist, den das Leben noch nicht zum Zyniker gemacht hat, muss mögen, was darin versprochen wird: Der Versuch eines Neuanfangs nicht nur bei Sozialen Medien, sondern im Netz überhaupt. Einen Neuanfang mit Werten statt Werbung, mit voller Kontrolle statt Manipulation verspricht das ello-Manifest:

"Dein Soziales Netzwerk [gemeint sind alle bisherigen] gehört Werbetreibenden.

Alles dort Geschriebene, alle dort getroffenen Freunde und alle dort geklickten Links werden aufgezeichnet und in Daten verwandelt. Werbetreibende kaufen diese Daten, um Dir noch mehr Werbung zeigen zu können. Du bist das Produkt, das ge- und verkauft wird.

Wir glauben, dass es einen besseren Weg gibt. Wir glauben an Verwegenheit, Schönheit, Einfachheit und Transparenz. Wir glauben, dass Menschen, die Dinge herstellen und Menschen, die diese benutzen, ein partnerschaftliches Verhältnis haben sollten.

Wir glauben, dass ein soziales Netzwerk ein Werkzeug zur Ermächtigung sein kann, nicht um zu täuschen, zu nötigen und zu manipulieren. Sondern ein Ort um sich miteinander zu verbinden, Dinge zu kreiren und das Leben zu feiern.

Du bist kein Produkt." (Englisches Original hier)

Ab jetzt läuft die Zeit gegen ello

Von Luft und Liebe können allerdings auch die sieben Ästheten nicht leben, die hinter ello stehen. Für das stille und leise Annehmen von 435.000 Dollar Risikokapital standen sie bereits in der Kritik. Budnitz betont indes, dass der Geldgeber Fresh Tracks keine Heuschrecke sei, sondern ein langatmiger Partner aus seiner Nachbarschaft im ländlichen US-Bundesstaat Vermont.

Der Investoren-Vertreter Cairn Cross erklärt, dass er geduldig sei — und optimistisch, dass ello die laufenden Kosten etwa für Speicherplatz, Verwaltung und Verbesserung der Seite durch einige wenige Intensiv-Nutzer hereinholen könne, die kostenpflichtige Premium-Funktionen nutzten. Für Milliardenumsätze dürfte das nicht sorgen können, für annehmbare schwarze Zahlen aber durchaus. Mit solchen "Freemium"-Preismodellen fahren etwa viele Videospiel-Hersteller gut. Budnitz selbst drückt es gewohnt unbescheiden aus: Mit ello wolle er zwar nicht die Welt übernehmen, aber "auf unsere Art werden wir eine Menge Geld verdienen — indem wir den besten Teil des Internet monetarisieren."

Skeptiker verweist der ello-Mitgründer Todd Berger darauf, dass seine Mitstreiter und er nach wie vor die volle Kontrolle haben: "Uns gehören etwa 84 Prozent von ello. Deshalb können wir tun, was immer wir wollen." Im Rahmen dessen, was sie versprochen haben, nämlich für immer gratis und werbefrei zu bleiben. Dass sie sich mit diesem Alleinstellungsmerkmal um viel Handlungsfreiheit bringen, dessen sind sich die ello-Gründer bewusst. "Aber im Ernst: Wenn wir dieses Versprechen brächen, würden wir den größten Teil der ello-Community verlieren", schreiben sie. Allein deshalb sei das keine Option.

So ungerecht es sein mag: Der Vertrauensvorschuss der Netzgemeinde ist, kaum formuliert, schon fast wieder aufgebraucht. Ab jetzt läuft die Zeit gegen ello. Immerhin: die ersten greifbaren Beweise dafür, dass sie ernst genommen werden, haben die Gründer bereits — jenseits von warmen Worten und allem Hype.

Facebook beweist seine Ehrfurcht

Den ersten Hacker-Angriff hat ello bereits vor knapp einer Woche überstanden, als die ersten US-Medien berichteten. Am Ende der Woche regte sich unter dem akutem Zugzwang durch ello auch der große Rivale — und entschuldigte sich sowohl für sein psychologisches Experiment als auch für die strikte Verfolgung der Klarnamen-Vorschrift.

Doch unter Umständen kommt dieser Schritt zu spät. Vielleicht haben viele Facebook-Nutzer längst die Nase voll und nur darauf gewartet, weiterzuziehen zu einer besseren Party, die jüngeres, stilbewussteres Publikum anzieht und cooler ist, nicht kommerzgetrieben und weniger spießig. An einen Ort, wo sich jeder nennen kann wie er mag und sogar Nacktbilder hochladen kann, solange sie entsprechend markiert sind. Underground also, aber schick statt schmutzig und mit eingebauter intellektuell-moralisch-stilistischer Überlegenheit.

Exklusiv genug um verlockend zu sein, aber nicht so exklusiv, dass man nicht reinkäme. Und gratis. Höchst verlockend für eine zahlenmäßig kaum beschränkte, weil selbsternannte Avantgarde.

Sobald ello die Musik aufdreht und mehr anbietet als lauwarmes Leitungswasser, könnte Mark Zuckerberg leidvoll erfahren, dass sich auch sein virtueller Partykeller rapide leeren kann.

(tojo)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort