Mobile Videos Hirn aus — Handykamera an

Düsseldorf · Ein Jahrhundert lang war das Filmen Luxus, heute werden Videos massen-, ja reflexhaft produziert. In diesen Tagen zeigt sich überdeutlich, welche Potenziale das birgt – und welche Risiken. Denn die Macht des bewegten Bildes überfordert uns.

Mobile Videos: Gehirn aus — Handykamera an
Foto: Phil Ninh

Ein Jahrhundert lang war das Filmen Luxus, heute werden Videos massen-, ja reflexhaft produziert. In diesen Tagen zeigt sich überdeutlich, welche Potenziale das birgt — und welche Risiken. Denn die Macht des bewegten Bildes überfordert uns.

Die Würde des Menschen ist unauffindbar. Das sagen immer mal wieder Zeitgenossen, die "unantastbar" meinen, es aber mit der Sprache nicht so haben. Wie verbreitet es im Jahr 2016 tatsächlich ist, seine Mitmenschen und sich selbst zu entwürdigen, merkt man nach fast jedem schweren Unfall. Wenn Dutzende bremsen — nicht, um zu helfen, sondern um zu gaffen. Voyeurismus hat es immer schon gegeben, es ist ein niederer Instinkt, der im Menschen angelegt ist, der hässliche, verkommene Bruder der Neugier. Seine vorläufige Endform ist das Filmen per Handykamera, wenn es am unangebrachtesten ist. Die Gesellschaft ist machtlos dagegen; dass NRW eine halbe Million Euro in zwölf mobile Sichtschutzwände für die Autobahnpolizeien im Land investiert hat, nicht viel mehr als Symbolpolitik.

Dass eine Kamera längst keine wertvolle Maschine mehr ist, sondern nur eine unter unzähligen Funktionen eines Handys, befördert Zerstreuung durch Aufnahmen tapsiger Tierbabys, Anerkennung für Helden des Alltags, Lokalsportler, Musiktalente und die Teilnahme von Großeltern am Leben weit entfernt aufwachsender Enkelkinder — doch dabei belassen wir es ja nicht.

Die Folgen des Video-Wahns gehen über die (Zer-)Störung von Konzerten durch filmwütige Zuhörer weit hinaus. Wie unter Hypnose greifen viele in den unpassendsten Momenten zum Smartphone, schalten die Handykamera ein und das Hirn aus.

Die neue Macht über das bewegte Bild elektrisiert uns, aber sie überfordert und korrumpiert uns auch.

1895 begann das Zeitalter des bewegten Bildes, doch rund 100 Jahre lang blieben die Mittel rationiert und das Filmen ein Luxus, bewusst und dosiert eingesetzt im Dienste der Kunst oder Kriegspropaganda. Die um die nächste Jahrhundertwende aufkommenden privaten Filmkameras, zunächst analog, dann digital, blieben ein Nischenphänomen für nerdige Familienväter. Und das wenige Material das überhaupt entstand, blieb privat; ein harmloser Haufen Homevideos. Heute, zehn Jahre nach der Gründung von Youtube, werden 300 Stunden Videomaterial pro Minute allein auf dieses Portal hochgeladen, also mehr als zwei Jahre pro Stunde. Rund um die Uhr. Tag für Tag.

Kameras sind Werkzeuge, die zu Waffen werden können

Nur kurz nach der Demokratisierung der Fotografie ist jeder Mensch also auch ein Kameramann. Hobbymäßig halt — auf die Einhaltung eines Berufsethos lassen sich Katastrophentouristen selbstredend nicht verpflichten. Mit diesem Freibrief wird voll draufgehalten. Das Werkzeug wird zur Waffe.

Im Englischen heißt das Aufnehmen von Fotos oder Videos "to shoot", und seit jeder eine nicht meldepflichtige Bewegtbildwaffe trägt samt quasi unendlich viel Munition in Form von Speicherplatz, gibt es eine weitere Parallele zwischen Privat-Paparazzi und Revolverhelden. Das Motto lautet: Erst filmen, dann denken.

Weil es im Hinterkopf pocht, raunt, drängt: "Pics or it didn't happen!" Das ist der Schlachtruf der Fantasielosen, Misstrauischen, Sensationsgeilen: Was nicht fotografiert oder idealerweise gefilmt wurde, ist überhaupt nicht passiert. Und falls man doch zu Krasses einfängt, so das Argument, kann man es ja im Nachhinein immer noch löschen.

Nur dass das keiner tut.

Zehntausende versuchen, das Netz sauber zu halten

Deshalb reibt sich ein wohl rund 100.000 Mann starkes Heer outgesourcter Billiglöhner auf in dem aussichtslosen Kampf, die Aufnahmen der blutigsten und widerlichsten Perversitäten aus dem Netz zu löschen — oder wenigstens aus dessen Hochglanzteil, der einen Ruf und Werbekunden zu verlieren hat, und wenigstens im Nachhinein. Die virtuellen Tatortreiniger werden immer zu wenige und zu langsam sein, und die meisten geben nach spätestens ein paar Monaten auf. Ultimativ desillusioniert, oft alkohol- oder drogensüchtig. Vielleicht für immer geschädigt vom geballten "Worst of" dessen, was zu tun oder zumindest nicht zu stoppen, zu filmen und zu verbreiten Menschen im Stande sind — niemand weiß das, niemanden interessiert es.

Und selbst die theoretische Möglichkeit zur Selbstzensur der Filmenden vor dem Upload geht verloren, weil der Trend zum Livestreaming geht, dahin also, die Bedenkzeit auf null zu reduzieren.

Die ersten Kinder gucken nicht mehr nur Youtube, sie präsentieren ihr eigenes Leben bei YouNow. Die Netzgemeinde erfreut sich an den neuen Livestream-Diensten Periscope und Meerkat. Technisch gesehen ist die Zeit allemal reif: Stabilisatoren und Filter machen die Bilder immer ansehnlicher, Speicherplatz ist längst quasi kostenlos, Bandbreite wird immer billiger. Beängstigend nah scheint die dystopische Zukunft aus "The Circle", in der eine Art AppleFacebookAmazonGoogle die ganze Welt mit billigen, trag- und steckbaren Kameras überzieht, die 24/7 alles aufzeichnen und so jede Privatsphäre eliminieren. "Geheimnisse sind Lügen", lautet der Slogan des Konzerns. "Teilen ist Heilen. Alles Private ist Diebstahl."

Man wünscht sich Videos zu jedem Verbrechen

Doch der maßgeblichere Schritt ist längst getan: Wo Adrenalin fließt, wird schon heute längst reflexhaft gefilmt, gespeichert, geteilt. Ohne dass futuristische Nano-Kameras oder auch nur die Kamerabrille "Google Glass" dazu nötig wären, die omnipräsenten Smartphones reichen ja.

Das kann durchaus auch gute Folgen haben: Vielleicht berührt uns das in Todesangst gedrehte <u>Handyvideo des Bielefelder Bergsteigers Jost Kobusch von einer Lawine beim Erdbeben im Himalaya</u> mehr als die immergleichen Bilder armer Menschen mit dunklerer Hautfarbe als wir in den Trümmern ihrer Existenzen — und erst dieser Anblick animiert uns zum Spenden für Nepal.

Unschätzbar wertvoll sind Videoaufnahmen im Kampf gegen autoritäre Regimes sowie Gewalt von oder gegen Polizisten. Erst jüngst half ein Amateurvideo, den Tod des Afroamerikaners Walter L. Scott in South Carolina aufzuklären. Das zu sehende Geschehen bedarf keiner Erklärung, ist durch keinen Kontext zu relativieren und durch keine Jury abzutun: Mit mehreren Schüssen in den Rücken wird der in Panik fliegende Mann von einem weißen Polizisten niedergestreckt — der danach seinen Elektroschocker neben dem Sterbenden drapiert und später aussagen wird, der Flüchtige habe ihn gestohlen, die Schüsse seien mithin Notwehr gewesen. Ohne den mutigen Passanten mit dem Film-Reflex wäre die Wahrheit wohl nie ans Licht gekommen. Dasselbe gilt für den Fall Freddie Gray — dessen Aufklärer zwischenzeitlich selbst festgenommen wurde.

Videoaufnahmen sind für Laien kaum zu manipulieren, sie beinhalten viel Information und bedürfen kaum der Interpretation. Kurz: Man wünscht sich welche zu jedem Verbrechen, nicht erst seit massenhafte <u>Fehlschlüsse nach Haaranalysen beim FBI</u> bekannt wurden.

Schon 1991 hatte ein Video der real existierenden Polizeigewalt gegen den schwarzen Trucker Rodney King Rassenunruhen ausgelöst. In diesen Wochen erleben die USA ähnliches, beschleunigt und begünstigt durch eine Vielzahl spezieller Apps wie "CopWatch", die das Hochladen solcher Videos vereinfachen. Der Technologie und ihren Nutzern hier eine Mitschuld zu geben am Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, wäre der Gipfel des Zynismus.

Doch es gibt sie, diese andere Seite des Videowahns, die selbst Opfer fordert.

Überbietungswettbewerb bei krassen Bildern

Extremsportler gehen immer höhere Risiken ein, auf der Jagd nach den krassesten Bildern aus der Ich-Perspektive ihrer Helmkameras. Regelmäßig bezahlen das etwa "Wingsuit"-Springer mit dem Leben, die sich darin messen, wer mit Flughäuten aus Stoff auf dem Weg nach unten am nächsten an Felswänden vorbeirast und am spätesten den rettenden Fallschirm auslöst.

Das Urvertrauen zwischen jungen Menschen bröckelt mit jedem weiteren heimlich gedrehten Sexvideo, das als Druckmittel dient und nach der Trennung häufig auf "Racheporno"-Websites landet. Ein 28-jähriger Kalifornier etwa hatte, ganz Geschäftsmann, gleich zwei Seiten betrieben. Auf der einen veröffentlichte er von früheren Partnern bereitgestellte explizite Aufnahmen; Name, Wohnort, Alter und ein Link zu den Facebook-Profilen der Opfer inklusive. Auf einer zweiten Website ermöglichte er ihnen, die Einträge von der ersten löschen zu lassen — gegen Zahlung von 350 Dollar. Inzwischen gibt es erste Gesetze dagegen — nach zähem Kampf gegen die amerikanische Bürgerrechtsunion ACLU, die absurderweise die Meinungsfreiheit in Gefahr wähnt.

Amateurvideos aus Krisengebieten rütteln uns kaum noch auf, wie etwa das Beispiel Syrien zeigt, stacheln die Gewalt vor Ort aber immer wieder an. Zum Völkermord in Ruanda 1994 war es vor allem durch Radio-Propaganda gekommen; nicht auszudenken, welche zerstörerischen Kräfte geplant eingesetzte bewegte Bilder aktivieren würden.

Einen derart kalkulierten Überbietungswettbewerb liefern sich längst Terrorgruppen: Die Bilder der brennenden Zwillingstürme vom 11. September waren sozusagen ein globaler Marketing-Hit für Al Qaida, sind aber im kollektiven Kurzzeitgedächtnis längst ersetzt durch immer neue Wellen körniger Handyaufnahmen von Enthauptungen, Steinigungen und Verbrennungen bei lebendigem Leib durch die Fanatiker des IS.

Wer solche "starken" Bilder mit wohligem Grusel am heimischen Computer verfolgt, kommt schnell auf die Idee, nicht nur konsumieren, sondern selbst zu produzieren. Unter dem dünnen Deckmantel des angeblichen Willens zu dokumentieren, ja, die ehrbare Chronistenpflicht auszuüben.

Gaffer-Masse gefährdete Deiche bei Hochwasser

1988 kam es zu einem der größten Sündenfälle des Journalismus: beim Geiseldrama von Gladbeck führten Berichterstatter Live-Interviews mit den Geiselnehmern, ein Reporter setzte sich mit ins Auto. In seriösen Redaktionen gelten seitdem strenge Standards dafür, was wann berichtet und vor allem was im Bild gezeigt wird. Nicht alle fühlen sich immer an die Vorgaben des Pressekodex gebunden — aber Gaffer tun es nie.

Ohne das meist zuverlässig funktionierende Korrektiv durch kühle Köpfe in einer Redaktion geilen sich filmende Katastrophentouristen auf am Leid, das sich vor ihnen entfaltet. Dabei ist ihre Anwesenheit mehr als bloß ein moralisches Armutszeugnis. Die Primitivlinge bleiben nicht "nur" neutral, statt zu helfen, wie sie es täten, wenn sie sich überfordert entfernten. Sie behindern die Anfahrt der Helfer, blockieren Platz zum Aufbau der Hilfsmittel, binden Personal bei den ohnehin unterbesetzten Polizeien, Feuerwehren, Sanitätsdiensten. Ohne schlechtes Gewissen, geschützt durch die Masse der anderen, die dasselbe tun ("Bystander-Effekt").

Beim Elbe-Hochwasser 2006 stellten Anwohner Schilder auf: "Gucken 5 Euro, Mithelfen kostenlos". Gewirkt hat es kaum. 2010 warnten die Behörden in Brandenburg vor Deichbrüchen — weil zu viele Gaffer so nah ran wollten, dass sie die Wälle mit ihrem Körpergewicht belasteten. Das ist kein deutsches Phänomen. Nach dem verheerenden Erdbeben in Indonesien behinderten Scharen einheimischer Schaulustiger die Rettungsarbeiten. "Vermutlich ist das der Preis, der in einer freien Welt zu bezahlen ist", sagte damals resigniert Howard Arfin, der Koordinator der Rot-Kreuz-Gesellschaften.

Die Realität überholt die mutigste Kunst

2012 erregte eine Bilderserie namens "Atomic Overlook" Aufmerksamkeit, für die der amerikanische Künstler Clay Lipsky per Fotomontage Touristen entspannt bis erfreut auf Hurrikans und Bombenexplosionen blicken ließ (Auswahl <u>hier</u>, komplette Serie hier). Das ist sein Kommentar zum Zustand der heutigen Welt, "in der Katastrophen von zunehmend abgestumpften Massen als Unterhaltung verstanden werden". Handys haben Lipskys Biedermänner nur selten gezückt — weil an den realen Aussichtspunkten eben nichts Spektakuläres passierte. "Wenn dort wirklich Bomben explodierten, würde sicher umso mehr gefilmt", sagt der Künstler.

Im Juli 2014 wurde sein Werk von der Realität überholt: Auf den Hügeln vor der israelischen Stadt Sderot versammelten sich Bürger der zuvor von Raketenangriffen gebeutelten Stadt, um dem Bombardement des Gazastreifens durch "ihre" Luftwaffe zuzusehen und es aufzuzeichnen. Manche brachten auch Stühle mit, andere schleppten ein Sofa hoch, wieder andere sorgten für Popcorn, Getränke und Wasserpfeifen. Bei Explosionen brandete Applaus auf.

Sderot cinema. Israelis bringing chairs 2 hilltop in sderot 2 watch latest from Gaza. Clapping when blasts are heard. pic.twitter.com/WYZquV62O7

"Gott steh uns bei. Was ist aus der Menschheit geworden?", lautete eine der Reaktionen darauf. Der dänische Journalist Allan Sørensen, von dem die berühmte Aufnahme stammt, sagt, niemand der dort Anwesenden hätte das Gefühl gehabt, er tue etwas Unanständiges. "Aus exakt diesem Grund habe ich das Foto gemacht. Weil es die komplette Abwesenheit von Empathie zeigt." In Gaza hatten zuvor viele die vorherige Entführung dreier jugendlicher Israelis mit einem eigens kreirten Drei-Finger-Gruß gefeiert — äußerst Social-Media-tauglich.

Empathielosigkeit herrsche also auf beiden Seiten, betont Sørensen.

Die ganze bittere Wahrheit ist, dass sie längst überall auf der Welt herrscht, und unter allen Umständen. Jedes ohne Aufklärungswillen gedrehte Handyvideo vom Leid anderer ist ein weiterer Beweis dafür. Und mit jedem Klick darauf wird der Satz ein kleines Stückchen wahrer: Die Würde des Menschen ist unauffindbar.

(tojo)
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