Soziale Netzwerke Der Terror von Paris - so emotional reagierte das Netz noch nie

Düsseldorf · Statt wie bei Charlie Hebdo auf die Straße zu gehen, haben die Pariser in den Stunden des Terrors im Netz Zusammenhalt gesucht. Viele Deutsche empfanden die sozialen Netzwerke hingegen am Wochenende als unerträglich. Sympathisanten des IS verbreiteten abartige Propaganda. Eine Reise durch ein emotionalisiertes Web.

 Ein Nutzer der App "Periscope" streamt ein Live-Video aus Paris. Die Zuschauer nehmen weltweit Anteil.

Ein Nutzer der App "Periscope" streamt ein Live-Video aus Paris. Die Zuschauer nehmen weltweit Anteil.

Foto: Screenshot: Periscope

Paris steht in Flammen. Die Spitze des Eiffelturms ist weggebombt. Schwarzer Rauch steigt über der Ruine des Wahrzeichens der französischen Metropole in den Himmel auf. Falsche Bilder wie diese wurden bereits wenige Stunden nach den Anschlägen von dem "Islamischen Staat” nahestehenden Propaganda-Profilen in verschiedenen sozialen Netzwerken verbreitet. Gespickt mit Hassbotschaften gegen den Westen.

Doch diese Botschaften kamen in Europa beim Großteil der Menschen gar nicht an. Sie versuchten auf ihre ganz eigene Art und Weise den Terror von Paris zu verarbeiten. Dabei ist eins deutlich geworden: Noch nie haben sich die Menschen in Europa seit dem Entstehen sozialer Netzwerke so emotional wie an diesem Wochenende gezeigt.

Ein Netz voller Menschlichkeit. Kurz nach dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo” im Januar haben sich die Franzosen auf der Straße getroffen. Der Place de la République wurde zum Ort der kollektiven Trauer - aber auch ein Ort der Menschlichkeit und Liebe. An diesem Wochenende war es anders. Wohl auch wegen der Ausgangssperre bei gleichzeitiger unübersichtlicher Nachrichtenlage haben die Pariser direkt am Freitagabend im Netz nach Halt gesucht. Sie öffneten ihre Haustüren für alle die, die sich nicht direkt in Sicherheit bringen konnten und boten über das soziale Netzwerk Twitter unter dem Schlagwort #PorteOuverte (frz. für offene Tür) eine Bleibe an. "Einem Fremden die Tür zu öffnen, obwohl in der Stadt Terror und Angst herrscht, ist eine unfassbar menschliche Geste", schrieb ein deutscher Fußballfan. Deutsche Fußballfans berichten, wie sie nach dem Verlassen des Fußballstadions von Parisern in ihre Wohnungen aufgenommen wurden.

Ein Netz voller Angst. Die Nachricht von den Anschlägen verbreitete sich rasend schnell über das Netz und erreichte auch über die Smartphones die Fußballfans im Stadion. Geiseln im "Bataclan”-Konzertsaal berichteten über Facebook von ihren dramatischen Erlebnissen. "Ich liege schwer verletzt auf der ersten Etage im Bataclan”, schrieb ein Konzertbesucher. "Es gibt noch Überlebende.” Viel Aufmerksamkeit bekam auch die App "Periscope”. Nutzer können mit ihrer Smartphonekamera einen Live-Video-Stream anbieten und über Twitter finden sich direkt viele Zuschauer. Augenzeugen haben noch während der Anschläge Videostreams gestartet. Ein Nutzer zeigte, wie die Polizei Anweisungen verteilte, während er hinter einem Auto Deckung suchte. Diesen dramatischen Szenen folgten in der Spitze bis zu 35.000 Zuschauer. Die App kam zwischenzeitlich sogar zum Erliegen. Viele Zuschauer zeigten sich fasziniert und kommentierten das Gesehene öffentlich. Der Social-Media-Berater Felix Beilharz machte in seinem Blog aber auch auf die Schattenseite aufmerksam: "Es war zu keinem Zeitpunkt zu erkennen, welche der Kommentare auf Fakten beruhten und was Missveständnis, Panik, Übertreibung oder Fantasie war”, schrieb Beilharz. "Hier liegt vielleicht das größte Risiko der Berichterstattung durch nicht journalistisch ausgebildete Personen vor Ort und der fehlenden Überprüfung angeblicher Fakten. Eine wilde Mischung aus Gehörtem, selbst Gesehenem, weitergegebenen Meldungen aus den Medien — kaum zu unterscheiden.”

Ein Netz voller Trauer. Ein stilisierter Eiffelturm in der Form eines Peace-Zeichens auf schwarzem Grund wurde schnell zum Symbol der Trauer. Weltweit haben Menschen ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht und das Foto gepostet. Schnell setzte sich das Schlagwort #NousSommesUnis (frz. für wir sind vereint) für die Trauerbotschaften aus der ganzen Welt durch.

Ein Netz voller Hilfsbereitschaft. Auch in Frankreich ist Facebook das wichtigste soziale Netzwerk. Gründer Mark Zuckerberg hat sich nur wenige Stunden nach dem Beginn der Anschläge gemeldet, um die Funktion "Safety-Check” zu aktivieren. Das Netzwerk identifizierte seine Nutzer in Paris und bot ihnen an, sich als "sicher” zu markieren. So konnten Freunde automatisch informiert werden, wie es den Bekannten in Paris geht. "Danke Facebook, per Anruf oder SMS war kein Durchkommen nach Paris", schrieb in der Nacht zu Samstag eine Nutzerin auf Facebook. "Aber dank euch weiß ich, dass es meinen Freunden gut geht." Zum ersten Mal ist der "Safety-Check" im Rahmen eines Terroranschlags aktiviert worden. Ursprünglich hatte das US-Unternehmen die Funktion "Safety-Check" für Naturkatastrophen entworfen. In diesem Jahr ist die Funktion bisher fünf Mal zum Einsatz gekommen. Sie wurde unter anderem nach dem verheerenden Erdbeben in Nepal im April eingesetzt.

Ein Netz voller Fassungslosigkeit. Im Laufe des Wochenendes haben manche Nutzer in Deutschland geschrieben, dass sie es nicht ertragen, alle Kommentare auf Facebook oder Twitter zu lesen. Neben der Anteilnahme sorgte die Fassungslosigkeit und die Gier nach neuen Informationen für eine unangenehme Stimmung. Während einige versuchten, Ordnung in den Info-Dschungel zu bringen, schimpften noch andere vor Abpfiff des Fußball-Spiels am Freitagabend, warum es denn noch keine Sondersendung im Fernsehen gebe und die Sportjournalisten im Stadion alleine gelassen würden. Der Hörfunkjournalist Udo Stiehl, Nachrichtensprecher bei WDR 2, versuchte in einem Blogbeitrag Aufklärung zu betreiben. Er empfand die im Netz formulierten Erwartungen an die Medien als unerfüllbar hoch. "Weil auch Journalisten nicht an sämtlichen Orten sofort anwesend sind, weil Nachrichten erst recherchiert und dann veröffentlicht werden”, bloggte Stiehl. "Jeder kann in sozialen Medien irgendwelche Dinge verbreiten ohne Quellenangabe, ohne Verifizierung. Und auf sämtlichen Kanälen können Spekulationen stattfinden, ohne dass es Fakten bedarf. Aber ist das Journalismus? Reicht Ihnen das aus? Ich hoffe nicht. (...) Wer verlässliche Berichterstattung wünscht, braucht vor allem eines: Geduld.”

Ein Netz voller Hass. Bereits am Samstag schaukelten sich die Emotionen in Deutschland noch weiter hoch. Auf der einen Seite Hass auf die Attentäter, aber auf der anderen Seite werden vermeintliche Zusammenhänge mit der Flüchtlingsdebatte diskutiert. So zündelte etwa CSU-Politiker Markus Söder über die sozialen Netzwerke. Sein Tweet "#ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen” hat einen noch tieferen Keil in die Gesellschaft getrieben. Beifall gab es von den "besorgten Bürgern”, doch die Botschaft der Meisten an den Minister: Schämen Sie sich! Für eine emotionale Debatte sorgte auch der Journalist Matthias Matussek von der Zeitung "Die Welt”. In einem Facebook-Posting schrieb er: "Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen..” und ergänzte dieses Postings durch ein Emoji mit einem lachenden Gesicht. Welt-Chefredakteur Jan-Eric Peters distanzierte sich vom Autor und bezeichnete dessen Beitrag als "durchgeknallten” Text. Doch dies konnte keine Ruhe in die Debatte bringen. Ein Familienvater schrieb sich auf Facebook den Frust von der Seele: "Ich bin extrem erschrocken über die islamfeindlichen Kommentare, die hier geposted werden. Diese Situation jetzt auch noch zu benutzen, um die Flüchtlingspolitik zu kritisieren ist für mich überhaupt nicht nachzuvollziehen. Auch hat diese Krisensituation nichts mit Glaube und Religion zu tun. Der IS nutzt den Glauben doch nur kaltblütig als Vorwand, um die freie Welt in der wir Leben zu erschüttern!”, so der Rheinländer. "Was uns jetzt doch überhaupt nicht hilft ist Polemik und Hass! Ich glaube, dass es jetzt auch die letzten begreifen müssen, dass wir alle eine große Aufgabe haben. Mein Gott, wir haben Kinder in diese Welt gesetzt! Was bringt es uns, wenn wir jetzt auch noch unser eigenes Land spalten?”

Ein Netz voller Hoffnung. In all der Aufregung am Samstag unterbrachen auf einmal Videos von einem deutschen Klavierspieler die Diskussionen. Zwischen Absperrungen, Sicherheitskräften und wartenden Journalisten tauchte dieser Mann plötzlich mit seinem Piano auf. Er hielt an, postierte sich vor dem Bataclan-Theater. Der Ort, an dem der grausame Höhepunkt der Anschlagsserie stattgefunden hat. Eine Geiselnahme im Konzertsaal mit rund 100 Toten. Der Mann begann auf seinem Klavier zu spielen — "Imagine" von John Lennon, eine Hymne der Friedensbewegung. Ein magischer Moment, wie die Videos auf Twitter zeigen. Sie wurden Hundertausendfach geteilt. Zuvor twitterte er: "Sorry Konstanz ich kann heute nicht, ich muss nach Paris!” Der Pianist ist David Martello. Es ist nicht der erste Auftritt des 34-jährigen Deutschen mit sizilianischen Wurzeln. Vor einem Jahr spielte er in Köln am Rande der Hogesa-Demo. Der Pianist beruhigte Hooligans mit "Atemlos". Bekannt wurde er vor zwei Jahren in der Türkei. Drei Tage lang spielte er auf dem Taksim-Platz. Seine Zuhörer bezeichneten ihn als "Engel des Gezi-Parks". Zwar muss sich Martello auch Selbstvermarktung vorwerfen lassen, aber immerhin hat er vielen Menschen auch über das Netz einen guten Moment beschert.

Ein Netz voller Solidarität. Wer in den kommenden Tagen seinen Facebook-Account öffnet, kommt an der französischen Flagge nicht vorbei. Sehr viele Nutzer beteiligen sich an der Aktion, bei der sie die Farben der französischen Flagge transparent auf ihr Profilfoto legen, um ihre Unterstützung für die Pariser, Betroffenen und Angehörigen der Opfer zu zeigen. Für viele sind die wenigen Klicks zum eingefärbten Profilfoto eine schöne Geste, andere zeigen sich genervt vom Gruppenzwang. Am Ende siegt die Solidarität.

Ein Netz voller Fragen. Dass es auch drei Tage nach dem Terror von Paris mehr Fragen als Antworten gibt, zeigte ZDF-Moderator Jan Böhmermann. In seiner Satire-Sendung "Neo Magazin Royale” ist er um keine Antwort verlegen - bei diesem ernsten Thema schon. 100 Fragen hat der Moderator aufgeschrieben, die ihn im Zusammenhang mit den Anschlägen beschäftigen.Am Sonntagabend haben bereits 78.000 Facebook-Nutzer auf "gefällt mir” gedrückt. Seine 100. Frage: Möchte ich lieber in einem Land leben, in dem ich alle Fragen stellen kann, aber nur auf wenige eine Antwort erhalte, oder in einem Land, in dem ich nur wenige Fragen stellen darf, die aber beantwortet bekomme?

(dafi)
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