Retro-Webvideos von Jo Luijten So hätten Facebook, Google und Tinder vor 20 Jahren ausgesehen

Düsseldorf · Bevor "Retro" ein Hipstertrend wurde, war es ein Synonym für Romantik. Nicht etwa auf Klick-Jagd habe er Videos gebastelt, die die fiktiven Anfänge der großen Digitalkonzerne der 2010er Jahre zeigen, sagt der niederländische Künstler Jo Luijten, Jahrgang 1978. Sondern aus Nostalgie.

 Hätte so Tinder in den 1980er Jahren ausgesehen?

Hätte so Tinder in den 1980er Jahren ausgesehen?

Foto: Youtube

"Es ist wie eine Reise in eine Vergangenheit, die so nie existiert hat, eine Zeit, in der alles einfacher und besser war", sagt er. Seine 80er-Jahre-Wikipedia zeigt, was er damit meint: Wer darin "Paris Hilton" sucht, gelangt zum Eintrag über ein gewisses Luxushotel in Frankreich. Mobiltelefone sind ein Spleen für Neureiche, vor dessen exzessiver Nutzung Wissenschaftler warnen. MTV sendete noch Musik statt trashiger Realityshows.

Feier des Fortschritts und Kritik der Auswüchse

Die von Luijten alias "Squirrel Monkey" mit alter Software kreierten, wunderbar zugespitzten Videos verdeutlichen, wie rapide sich die Technologie um uns herum entwickelt hat. Das 80er-Jahre-Instagram etwa hätte daraus bestanden, dass man mit einem Farbfilm aufgenommene Fotos per Post verschickt und Instagram bei der Entwicklung Filter darüberlegt, deren Funktionsweise Betriebsgeheimnis ist. Im Bestellformular müsste man ankreuzen, ob die Firma die Ergebnisse auf Kassetten oder Disketten wieder zurücksenden soll. Und das Facebook der 90er Jahre hätte mit einem ganz besonderen Service geworben: "Falls Sie keinen Scanner besitzen, können Sie Ihr Profilfoto auch per Brief an Facebook schicken. Innerhalb eines Monats wird die Firma es für Sie digitalisieren und online stellen!"

Vor allem aber illustrieren die durch die niederländische Gadget-Show "Wondere Wereld" inspirierten Filmchen die absurden Auswüchse unseres heutigen digitalen Alltags — der ja aus mehr besteht als dem Unterlassen von "konstruktiver Kritik" unter YouTube-Videos.

Man twittert um des Twitterns Willen.
Man posaunt Nichtigkeiten in die Welt.
Man "addet" Freunde, die keine Freunde sind.
Man klickt "Gefällt mir" bei Dingen, die einem nicht gefallen.

Und an schlechten Tagen päppelt man sein Selbstbewusstsein auf, indem man ein bisschen römischer Kaiser spielt — und zumindest über das Tinder-Schicksal echter Menschen entscheidet.

Bei Jo Luijtens bewegten Bildern ist es nicht geblieben: Das Video eines fiktiven 80er-Jahre-Google hat den Österreicher Norbert Landsteiner dazu inspiriert, eine funktionsfähige Version zu programmieren, die die Suche nach Webseiten und Bildern erlaubt. Es greift auf die echten Suchergebnisse zu, zeigt sie aber in neongrün oder weiß auf MS-DOS-Schwarz an, künstlich eingeschobene Wartezeiten inklusive. Alles strikt per Tastatur gesteuert, versteht sich, nicht mit dieser neumodischen "Maus". Und wem das immer noch zu nah dran ist an heute, kann auch im "Mad Men"-Stil googeln — per virtueller Schreibmaschine.

Nette Spielereien. Wirklich aufschlussreich ist aber die eigene Reaktion auf diese Videos.

Schwarz-Weiß-Malerei in 16,7 Millionen Farben

Wie lang kommen einem die damals eben üblichen wiederholten Ladepausen von einer oder zwei ganzen SEKUNDEN vor? Wie schwer fällt es, einem Video zwischendurch nicht nur zuzuhören, um in einem anderen Fenster Facebook zu checken? Wie leicht gruselt man sich über die pixeligen Grafiken, das brutal zweckmäßige Design überhaupt? Und wie gut versteht man die Tragweite von Luijtens melancholischer Erinnerung daran, dass er und alle anderen Kinder seiner Generation problemlos in der Lage waren, in einem pixeligen Viereck mit schwarzen Flecken ein dreiäugiges Plutonium-Monster zu erkennen?

Jeder Computer, ja fast jedes Handy kann heute statt nur einer Handvoll Farben 16,7 Millionen darstellen, aber Diskurse scheinen öfter denn je schwarz-weiß geführt zu werden; zwischen Hatern und Fanboys, Shitstorm und Candystorm ist es im virtuellen Raum oft öd und leer.

Die Geschichte der Digitalisierung ist auch eine Geschichte vom Sieg des Fotorealismus über die Fantasie, der Schlagworte über die Nuancen, des Stils über die Substanz, der Form über den Inhalt.

Dieser Text ist zuerst in der digitalen Sonntagszeitung der Rheinischen Post erschienen, die Teil der App für iPad und Android-Tablets ist. Mehr unter www.rp-app.de

(tojo)
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