Essy Jeder Mensch ein Fotograf

Düsseldorf · Die Fotografie wird 175 Jahre alt. Mit Handys kann heute jeder überall Bilder machen. Das Internet und soziale Netzwerke sind voll mit sogenannten Selfies. Unserem Autor gefällt das.

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"No Make-up Selfies": Stars ganz natürlich

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Foto: Instagram/Gwyneth Paltrow

Zu Weihnachten habe ich meinen Eltern einen digitalen Bilderrahmen geschenkt. Er steht in der Küche, alle paar Sekunden zeigt er ein anderes Foto. Ich sorge aus der Ferne dafür, dass sich der Bildervorrat nie erschöpft. Von zuhause oder von unterwegs, von überall auf der Welt kann ich Fotos, die ich eben mit dem Handy von der Umgebung, von mir oder meinem Sohn gemacht habe, per Internet auf den Rahmen senden. Meine Eltern leben 260 Kilometer entfernt, aber es braucht nur ein Fingerschnippen, bis sie sehen, wie es uns geht. Sie sagen, sie sitzen nun häufig bei einer Tasse Kaffee da und freuen sich auf das nächste Bild.

Vor 175 Jahren wurde das erste Foto gemacht. Louis Daguerre richtete die Kamera auf den Boulevard du Temple in Paris, die Belichtungszeit betrug zehn Minuten. Alles, was sich bewegte, verschwamm zur Unkenntlichkeit, nur was ruhte, kam auf das Foto. Man sieht Gebäude und eine vage Silhouette: ein Mann beim Schuheputzen. Kurz darauf wurde die Erfindung in der Akademie der Wissenschaften der Öffentlichkeit vorgestellt. Der französische Staat kaufte Daguerre die Rechte ab und gab die Fotografie zur kostenlosen Nutzung frei. Heute gehört sie tatsächlich dem Volk: In 120 Sekunden werden mehr Fotos gemacht als im gesamten 19. Jahrhundert. Pro Sekunde laden allein die Mitglieder der sozialen Plattform Facebook 3000 Bilder hoch. Möglich gemacht hat diese Entwicklung das Smartphone, durch das fast jeder mit einer Hightech-Kamera ausgestattet ist und Bilder sofort bearbeiten und versenden kann. Frei nach Beuys könnte man sagen: Jeder Mensch ein Fotograf.

Eigentlich wäre dieser enorme Erfolg Anlass für euphorische Geburtstagsgrüße. Stattdessen erscheinen mürrische Artikel, die den Tod der Fotografie an die Wand malen und den Untergang der Kultur. Die Autoren beklagen, dass ihre Zeitgenossen den Moment nicht mehr genießen können, weil sie stets daran denken, ob er sich abbilden und als Foto teilen lässt. Die Fotografie sei kein Medium der Dokumentation und Erinnerung mehr, sondern reine Kommunikation; das Bild von vornherein auf andere bezogen. Hochzeit, Urlaub und Konzerte erlebten die Menschen nicht direkt, sondern lediglich über das Display des Smartphones. Konservierung sei wichtiger als unmittelbares Erleben, heißt es, Genuss werde ins Archiv ausgelagert. Und zu Dia-Abenden versammle man sich auch nicht mehr, weil jeder seine Bilder gleich bei Twitter poste.

Ich sehe das anders. Früher fotografierte ich selten, weil ich es nicht mochte, eine Kamera mitzunehmen. Heute habe ich sie immer dabei, die Möglichkeit ist da, und ich nutze sie. Ich fotografiere für den Bilderrahmen meiner Eltern, und wenn ich das mache, bedeutet das, dass ich an sie denke. Manche Bilder werden von meinen Eltern ziemlich rasch kommentiert. Sie rufen an und fragen, seit wann ihrem Enkelkind denn der linke Schneidezahn fehle. Wir kommen über Bilder ins Gespräch. Ich mache Fotos, wenn meine Freundin, die regelmäßig nach Berlin pendelt, wissen möchte, was die Kleinfamilie daheim treibt. Und ich mache einfach so Fotos, ohne Absicht und rein aus einem Impuls heraus. Sie landen auf der Festplatte meines Computers, die ich immer wieder mal durchsehe. Ich bleibe dann hängen an den Erinnerungen. Es ist wie Tagebuchlesen - jedes Bild ein Eintrag, eine Stimmung.

Ich kenne Menschen, die nicht aussehen, als hätten sie einen Sinn fürs Romantische. Dennoch fotografieren sie Blumen und Himmel, bearbeiten die Bilder mit Softwares wie Instagram oder Hipstamatic und stellen sie auf Plattformen wie 500px, wo andere sie kommentieren dürfen. Ich würde diesen Leuten nie vorwerfen, dass sie das Dabeisein zur Nachricht degradieren, das Leben nur mehr als Abfolge von Fotogelegenheiten begreifen und das Gewaltige zum Motiv verkleinern. Ich sage, sie leben ihr individuelles Schönheitsbedürfnis aus und bemühen sich um Einmaligkeit. Ihnen geht es um Aura, um das Glück des gelungenen Augenblicks und also um Beständigkeit. Wenn ich sie treffe, zeigen sie mir Bilder am Handy, und das ist dasselbe Prinzip wie der Dia-Abend, zutiefst menschlich: Ich möchte etwas festhalten, und ich muss dir unbedingt zeigen, was es ist.

Auch mich ärgert es, wenn ich im Konzert stehe, aber wenig vom Bühnengeschehen mitbekomme, weil ich auf eine Wand von Kameras blicke. Und ich habe von der Empörung über die junge Amerikanerin Breanna Mitchell gelesen, die in Auschwitz ein Selfie machte, also ein digitales Selbstporträt. Auch ich habe mich gefragt, ob das nicht jeden Anstand verletzt. Andererseits: War das wirklich Respektlosigkeit? Oder generationen-spezifisches Verhalten ohne Absicht? Will man wirklich das Bilderverbot aus dem religiösen Kontext in den Alltag übertragen? Oder kann man das Bildermachen nicht auch als eine Möglichkeit in Betracht ziehen, sich einen Überblick zu verschaffen, die Welt zu ordnen und über den Ausschnitt zum Ganzen zu gelangen? Ohnehin ist das Selfie doch nur eine Episode in der Entwicklung des Selbstporträts, das noch vor 20 Jahren extrem aufwendig in der Produktion war. Die Kamera wurde einst als "Spiegel mit Gedächtnis" bezeichnet. Warum soll man nicht selbst vor den Spiegel treten?

In den vergangenen 175 Jahren wurden geschätzte vier Billionen Fotos gemacht. Natürlich sind darunter nicht nur Meisterwerke, sondern auch Geschmacklosigkeiten. Natürlich wurden nicht nur sehenswerte Momente verewigt, sondern auch banale. Und natürlich ist das eine gigantische Anhäufung von Datenmüll. Andererseits wird man unsere Zeit womöglich einmal als jene rühmen, da aus Konsumenten Produzenten wurden. Der Satz "Jeder Mensch ein Fotograf" bedeutet auch, dass eine Selbstermächtigung stattgefunden hat, dass der selbstbewusste Zugriff auf die Wirklichkeit gelingt. Mit anderen Worten: Die Menschen sind freier.

Die Fotografie wird 175. Schön, dass es sie gibt.

(RP)
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