RP Plus Ein Tag in Deutschlands berühmtester TV-Kulisse

Seit 1985 läuft die WDR-Soap "Lindenstraße" und versteht sich seither sowohl als Abbild als auch als Korrektiv der deutschen Gesellschaft. Ganz so todernst wie in der Serie geht es am Set nicht zu. Ein Besuch ( plus 360-Grad-Panorama)

Seit 1985 läuft die WDR-Soap "Lindenstraße" und versteht sich seither sowohl als Abbild als auch als Korrektiv der deutschen Gesellschaft. Ganz so todernst wie in der Serie geht es am Set nicht zu. Ein Besuch (plus 360-Grad-Panorama)

Die Kantine ist winzig, sie erinnert eher an einen Imbiss. Eine Frau steht hinter der Theke und verkauft belegte Brötchen für 70 Cent, von den Kollegen wird sie "gute Seele" genannt. Es gibt erstaunlich viele junge Leute hier, viele sehen aus, als seien sie erst deutlich nach dem Start der Serie geboren. Wolfram Lotze macht seit 20 Jahren die Öffentlichkeitsarbeit für die "Lindenstraße", er hat einen Zettel in der Hand. "Das ist der Drehplan für heute", sagt er.

Marie-Luise Marjan ("Helga Beimer") kommt herein, sie begrüßt ihn per Handschlag und wischt sich die Augen, die vom kalten Wind tränen. Lotze fragt sie, ob sie die letzte Folge gesehen habe. "Klar, ich gucke immer die Lindenstraße, ich muss ja auf dem Laufenden bleiben", sagt sie. Sie bestellt noch einen Kaffee bei der guten Seele, dann muss sie ans Set. (Ein 360°-Panoramafoto vom Set sehen Sie hier).

Es ist kalt an diesem Montagmorgen, die Szenen aber spielen im Mai, das Team dreht drei Monate im Voraus. Die 150 Meter lange Pappkulisse steht auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd, in naher Entfernung rauschen die Autos auf der A 1 vorbei. Sie sieht aus wie die Fantasiewelten in Freizeitparks, putzig und künstlich.

Vor dem "Café Bayer", das als einer der wenigen Drehorte tatsächlich in die künstliche Fassade integriert ist, bibbern die Komparsen und warten auf ihren Einsatz. Sie bekommen 50 Euro pro Drehtag, wer sein eigenes Auto mitbringt und damit durch die Kulisse schleicht, kriegt 20 obendrauf. Marie-Luise Marjan, die vom Team "Marie Lu" genannt wird, und Philipp Sonntag ("Adi Stadler") drehen eine Szene auf der Straße.

Betulich, steif, deutsch

Sie stapft entschlossen mit ihrem Einkaufskorb auf den Bioladen zu, er sitzt auf einer Parkbank. Schnitt. "Philipp, der Blick sei auf den Bioladen gerichtet", sagt Regisseur Herwig Fischer, der hinter einer Wand in einem winzigen Kabuff sitzt. Beide Schauspieler werden kurz abgetupft, dann fällt die nächste Klappe. Sie stapft, ein Komparse fährt mit dem Rad los, ein Auto fährt vorbei und kommt nach wenigen Minuten wieder.

Adi möchte von Helga wissen, ob sie im Bioladen einkauft. Laut Drehbuch hat der Bioladen ein Bonussystem eingeführt. Wer zehn Stempel hat, bekommt eine Flasche Rotwein. Adi ist scharf auf Helgas Stempel, deshalb möchte er ihr den Einkauf abnehmen. Es ist eine typische "Lindenstraßen"-Szene, betulich, steif, deutsch. Ob die Macher genau so sind oder genau das parodieren wollen, ist eine Frage, die die "Lindenstraße" seit ihrer Erstausstrahlung 1985 begleitet. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen.

Die Geschichten werden von vier Autoren geschrieben, der Serienerfinder Hans W. Geißendörfer verfasst seit zehn Jahren keine Drehbücher mehr. Ein normaler Drehtag beginnt um zehn und endet um 18 Uhr, 150 Menschen gehören zum Team, davon sind 50 Schauspieler. Sie haben Ein-, Zwei- oder Dreijahresverträge und sind exklusiv an die "Lindenstraße" gebunden. Fast alle wohnen in Berlin und kommen nur zum Arbeiten nach Köln. 13 Darsteller sind von Beginn an dabei.

Von Anfang an hat die "Lindenstraße" auch den Anspruch, mehr als Unterhaltung zu sein. Sie bildet gesellschaftliche Entwicklungen ab, zeigt den ersten Aidstoten und den ersten schwulen Kuss im deutschen Fernsehen, thematisiert Fremdenhass, Arbeitslosigkeit und Drogensucht, hebt den Zeigefinger. Es ist der Grund, warum Gegner sie hassen und Fans sie lieben.

"Du bist die Aktualisierung"

Obwohl die Serie zeitversetzt gedreht wird, kommentieren die Figuren immer wieder das aktuelle politische Tagesgeschehen, meist aus dem Blickwinkel grün angehauchter Gut-Menschen mit gesundem Empörungspotenzial. Dafür müssen Monate alte Szenen wiederholt werden, die Schauspieler müssen exakt aussehen wie damals, auch die Strähne im Gesicht. Der Satz "Du bist die Aktualisierung" gehört zu den meistgefürchteten unter den Mitgliedern des Ensembles.

Die Szene mit Adi und Helga wird inklusive Proben rund zehn Mal gedreht, einmal verhaspelt sich Philipp Sonntag, einmal geht eine Komparsin zu früh los. Der Aufnahmeleiter, die Kameramänner und ihre Assistenten, die Regieassistentin und die Tonfrau sind Ende 20 bis Mitte 30, sie tragen ausgelatschte Sneakers und locker sitzende Jeans. Sie sehen nicht aus wie das typische Stammpublikum der "Lindenstraße", eher wie hippe Filmstudenten.

Der Umgang ist routiniert-freundlich, alle duzen sich, keiner verfällt in Hektik. "Da wir wöchentlich senden, können wir es uns erlauben, acht sendefertige Minuten pro Tag zu produzieren. Bei Daily-Soaps sind es 50", sagt Wolfram Lotze. Das Team arbeitet mit der Gewissheit, etwas Unumstößliches zu produzieren, so wie ein Schreiner, der einen Tisch baut. Seit 28 Jahren gibt es die "Lindenstraße", sie hatte 14 Millionen Zuschauer, als es nur drei Sender gab, heute sind es noch drei Millionen, eine stattliche Zahl.

Sie hat Zuschauer, die anrufen, weil Mutter Beimer seit vier Wochen ihre Bettwäsche nicht gewechselt hat und die darüber spotten, dass es an allen Autos immer dieselben drei fiktiven Münchener Kennzeichen gibt. Die Münchener Verkehrsbetriebe haben sich vor vielen Jahren beschwert, weil ein völlig maroder Bus durch die Kulisse fuhr, inzwischen gibt es einen neuen.

Kahle Bäume dürfen nicht ins Bild

Das Team ist rund 20 Meter weiter gezogen, es dreht nun direkt vor der Haustür der Lindenstraße 3, dem Zentrum der Serie. Die Sonne strahlt an diesem Tag, doch die Bäume sind kahl, deswegen dürfen sie im Bild nicht zu sehen sein. Wenn es nicht anders geht, müssen sie begrünt werden, doch das kostet bis zu 12.000 Euro.

Philipp Sperling (Philipp Neubauer) kommt mit einer Einkaufstüte vom Supermarkt und trifft auf Angelina Buchstab (Daniela Bette) und Dr. Ludwig Dressler (Ludwig Haas), einen der Schauspieler, der wie Marie-Luise Marjan seit der ersten Folge dabei ist. Sie machen Smalltalk, doch dann kippt die Situation, Angelina schiebt Ludwig in seinem Rollstuhl energisch weg. Sie hat was gegen Philipp. Die Kamera fährt auf Schienen neben dem Rollstuhl her. Schnitt. Auch diesmal ist die Szene nach rund einer dreiviertel Stunde im Kasten.

Der Vertrag für die Serie läuft offiziell bis 2014. Niemand hier zweifelt daran, dass sie ewig weitergeht.

(seeg)
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