Wertediskussion um Fleischverzehr Warum haben wir Tiere zum Fressen gern?

Düsseldorf · Wer von uns ist in der Lage, ein Schwein oder ein süßes Kälbchen zu töten? Doch wie leicht ist es, vor die Kühltheke zu treten und das gute Stück Kalbfleisch für das original Wiener Schnitzel am Abend auszusuchen. Mit diesem Widerspruch der Werte lebt unsere Gesellschaft, für die das Essen von Fleisch normal, natürlich und notwendig ist.

Erzählen wir die Geschichte von Emily. Emily ist eine Kuh, die mit anderen Rindern vor der Schwingtür zum Schlachtbereich steht. Da riecht sie plötzlich das viele Blut jenseits der Türe und gerät in Panik. Das passiert oft in Schlachthöfen. Doch Emily ist ganz besonders energisch und überwindet einen Zaun. Und dann rennt Emily um ihr Leben und versteckt sich in den Wäldern von Neuengland vor ihren Verfolgern. Fast vierzig Tage lang. Aber da hat Emily bereits Freunde gefunden. Bauern der Gegend um Hopkinton legen Heuballen aus, und wenn Anwohner die Kuh gesehen haben, schicken sie die Polizei bewusst auf die falsche Fährte.

Auch wer diese Geschichte aus dem Jahre 1995 nicht kennt, weiß oder ahnt, wie sie weitergeht. Tierschützer nehmen sich der Kuh an und sammeln Geld, mit dem sie Emily freikaufen können. Schließlich ist der Schlachthofbesitzer so gerührt, dass er nur einen symbolischen Dollar verlangt. Aber es kommt noch besser: Filmproduzentin Ellen Little spendet 10.000 Dollar, damit ein hübsches Stallgebäude für Emily mit einem Informationszentrum nebenan gebaut werden kann.

Wir lieben solche Geschichten — solche, die in der brutalen Realität beginnen, die zur Abenteuererzählung werden und dann ins märchenhafte Glück umschlagen. Geschichten einer heilen Welt, vor allem: Geschichten einer von Menschenhand geheilten Welt.

Die Sehnsucht nach dem Paradies

Der Wunsch, einem Tier zu helfen, es zu pflegen und gut zu ihm zu sein, entspringt möglicherweise unserem archaischen Wunsch nach dieser heilen Welt. Es spiegelt sich darin die Sehnsucht nach dem Paradies. Und dass diese nicht nur geträumt wird, sondern im Umgang mit Tieren auch ansatzweise gelebt wird, ist für einen Kulturmenschen im 21. Jahrhundert von besonderem Reiz.

Das könnte man milde belächeln und auf gutmütige Art auch ein wenig bekritteln. Steckte dahinter nicht ein großes Paradox menschlichen Lebens, dass wir diese Tiere auf der Schattenseite unserer täglichen Wahrnehmung und im Niemandsland unseres Mitleidens unter erbärmlichen Zuständen halten, in Massenproduktionsstätten aufziehen, trotz tierrechtlicher Bestimmungen brutal und schmerzvoll schlachten, um sie schließlich in großer Zahl zu essen. In amerikanischen Geflügelschlachthöfen liegt die sogenannte Produktionsgeschwindigkeit bei 8400 Tieren pro Stunde.

Wer aber könnte von sich behaupten, einem Schwein die Kehle durchschneiden oder ein Kälbchen töten zu können? Die meisten Menschen ekeln sich vor solchen Vorstellungen. Wir hassen es, Tiere leiden zu sehen. Doch wie leicht ist es, vor die Kühltheke zu treten und kenntnisreich über die Qualität des ausgelegten Kalbfleisches zu schwadronieren für das original Wiener Schnitzel am Abend.

Zwei Welten prallen aufeinander

Was geht da in uns vor? Besser gefragt: Geht überhaupt etwas in uns vor? Dass in unserer Wahrnehmung offenbar zwei Welten unabhängig voneinander existieren, verrät einmal mehr die Sprache. Wie süßlich wird unser Tonfall, wenn wir den Kater Nero rufen, uns über das Schweinchen Babe freuen und Waldi, den Dackel, tätscheln. Und gleichzeitig findet unsere Sprache mühelos zu Wörtern, die aus dem geliebten Gefährten ein Ding machen, eben ein Nutztier. So reden wir dann ohne Bedenken von Milchkuh, Legehenne und Mastkalb. In einer Gesellschaft, die wie keine zweite vor ihr Tiere individualisiert und vermenschlicht, wird die gleiche Gattung zur Kreatur und zum Fleischlieferanten.

Die Psychologin Melanie Joy, die an der Universität von Massachusetts lehrt, hat sich diesem Widerspruch gestellt in ihrem neuen, jetzt auf Deutsch erschienenen Buch "Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen" (Verlag compassion media, 232 Seiten, 20 Euro). Natürlich findet sich darin keine simple Erklärung. Wer diesem Phänomen aber nachgeht, landet bei einem Gesellschaftsbild, das gerade beim Fleischverzehr — beim "Karnismus" — von einer unsichtbaren Ideologie geleitet wird. Sie besteht aus Werten, die sich die Menschen selbst gegeben haben und irgendwann zu glauben beginnen, Gegebenes vor sich zu haben.

Der "Eiweiß-Mythos" wurde längst widerlegt

Das sind Mythenbildungen in ihrer ursprünglichen Form. Dazu gehört zum einen die Abgrenzung von anderen bis hin zur Diffarmierung Andersdenkender. Noch heute werden Vegetarier oder Veganer gerne in die Ecke von späten Hippies gerückt oder als Menschen mit Essstörungen angesehen. Im bewussten Kontrast dazu wird das eigene Verhalten zur gesellschaftlichen Norm erhoben. Psychologie-Professorin Melanie Joy spricht dabei von den drei N's. Danach ist das Essen von Fleisch für den Menschen angeblich normal (wurde immer schon gemacht), natürlich und notwendig — dazu gehört der längst widerlegte "Eiweißmythos".

Dieses Wertesystem funktioniert reibungslos: In Deutschland liegt der jährliche Fleischverzehr (ohne Meerestiere) pro Person bei 90 Kilogramm — davon sind 54 Kilogramm Schweinefleisch, 13 Kilogramm Rind- und Kalbfleisch sowie 12 Kilogramm Hühnerfleisch.

Normal, natürlich, notwendig — das ist der Nährboden einer Wertvorstellung, mit der das Tier zum Ding und damit für den Menschen mehr oder weniger frei verfügbar und auf jeden Fall nutzbar wird. Dagegen können die seit den 1970er Jahren verstärkt artikulierten Moraltheorien nur bedingt ankämpfen. Dem Tier eine Würde zuzusprechen und unsere Mitleidsethik auch in eine Tugendethik zu überführen, erscheint immer noch eine ferne Vision zu sein.

Die psychische Eigenbetäubung hilft

Dass wir stattdessen die alten Werte auf zum Teil grausame Weise bis heute exekutieren, liegt auch an unserer psychischen Eigenbetäubung. Dazu gehört nicht allein, dass wir das Schlachten an andere delegieren und die Schlachthöfe an den urbanen Rand platzieren. Joy zählt dazu auch einen "Missing Link", eine fehlende Verbindung in unserer Wahrnehmung und Vorstellung zwischen dem Fleisch, das wir zu essen, und dem möglicherweise putzigen Ursprungstier. Das Prinzip ist erschreckend simpel, es lautet: Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Das ist ein Abwehrmechanismus, mit dem vor der Kühltheke das abgepackte Schnitzel immer nur das abgepackte Schnitzel bleibt.

Wertediskussionen sind eine zähe Angelegenheit. Umso erstaunlicher ist es, dass auch andere Argumente wenig Wucht entfalten können, selbst bei Modethemen wie dem Umweltschutz. Denn tatsächlich bezahlen die Menschen für ihre Fleisch-Vorliebe einen hohen Preis. So sind für ein Kilo Rindfleisch 15.000 Liter Wasser nötig. Auch darum gilt die Fleischproduktion nach Einschätzung der Vereinten Nationen als eine der Hauptursachen für die Zerstörung unserer Umwelt.

Nach Angaben von Professorin Melanie Joy sind 70 Prozent der früheren Amazonas-Regenwälder heute Weideland für Nutztiere; 55 Prozent der Bodenerosionen in den USA werden durch die Nutztierhaltung verursacht; das von den Rindern und ihrer Gülle abgegebene Methan trägt so viel zur Erderwärmung bei wie 33 Millionen Autos; um einen Menschen ein Jahr lang mit Fleisch und anderen Tierprodukten zu ernähren, werden rund 900 Kilogramm Getreide nötig. Würde der Mensch sich nur von Getreide ernähren, reichten 180 Kilogramm aus.

Erzählen wir zum Schluss noch die sinnfällige Geschichte von einem Spatz in den Niederlanden, der erschossen wurde und dem danach eine eigene Trauerwebsite eingerichtet wurde. Er hatte sich in eine Halle verirrt und 23.000 für einen Dominowettbewerb aufgestellte Steine zum Kippen gebracht.

(RP)
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