Spielerwechsel Es gibt nur eine Borussia... ach nee, zwei

Mönchengladbach · Mit Nagetiervergleichen und dem Verweis auf unbeliebte Jünger haben die Anhänger von Borussia Mönchengladbach auf den Wechsel von Marco Reus reagiert. Unser Autor ist seit 20 Jahren Borussia-Fan und erklärt die Gefühlswelt am Niederrhein.

Marco Reus – Gladbach-Retter, BVB-Held, verhinderter Weltmeister
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Das ist Marco Reus

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Foto: AP/Martin Meissner

Mit Nagetiervergleichen und dem Verweis auf unbeliebte Jünger haben die Anhänger von Borussia Mönchengladbach auf den Wechsel von Marco Reus reagiert. Unser Autor ist seit 20 Jahren Borussia-Fan und erklärt die Gefühlswelt am Niederrhein.

Wenn immer bei Borussia Mönchengladbach etwas Außergewöhnliches passiert, meine ich, es der Stadt anzusehen. In den vergangenen Wochen hatte ich nach jedem Sieg das Gefühl, dass die Dächer golden blitzten und die Menschen auf einmal in der Lage waren, zu lächeln, eine dem Gladbacher sonst fremde Gesichtszuckung. Nach Niederlagen regnete es grundsätzlich, die Häuser waren noch grauer als üblich und jede zweite Straßenlaterne erlosch.

Als ich am vergangenen Mittwoch, an jenem schicksalsträchtigen 4. Januar, die Abfahrt Mönchengladbach-Nord nahm, kam mir die Stadt bereits in den Außenbezirken vor wie ein an der Autobahnraststätte ausgesetzter Hund. In den Autos, die an mir vorbeifuhren, meinte ich die Menschen Sturzbäche weinen zu sehen. Immer wieder fassten sie sich an den Kopf: Bitte nein, das darf nicht wahr sein.

Mischung aus Fußballgott und Lausebengel

Es war gegen 16 Uhr, als jede Website, die nur im Entferntesten mit Sport zu tun hatte, die Meldung ausspuckte, dass Marco Reus in der kommenden Saison zu Borussia Dortmund wechselt. Marco Reus, jene Mischung aus Fußballgott und Lausebengel, der gefühlt schon dafür ausersehen war, das Bronzedenkmal zu ergänzen, das sie Günter Netzer, Berti Vogts und Hacki Wimmer in der Fußgängerzone des Gladbacher Stadtteils Eicken aufgestellt haben.

Fünf Minuten später signalisierte mein Handy die Ankunft einer SMS. Ohne hinzugucken wusste ich, dass mein Bruder sie geschickt hatte. Wir haben die Handynummer des anderen ausschließlich für den Zweck gespeichert, dramatische Ereignisse bei Borussia zu kommentieren. In der Vergangenheit waren das Trainerwechsel oder Abstiege. Nun schrieb er: "Tja, so ein Dreck aber auch."

Ich versuchte, wütend zu sein, aber es gelang mir nicht. Die Wahrheit war: Reus bei Gladbach spielen zu sehen, war, wie eine Schachtel Toffifee zu essen. Ich aß sie mit Genuss und wusste doch, dass sie sehr bald leer sein würde. Und dann blieb mir nur noch goldenes Plastik als Erinnerung.

Polyester brennt

Andere Fans hingegen nahmen es weniger gleichmütig hin. In den angeblich sozialen Netzwerken bekundete eine Minderheit, wie schade sie den Wechsel fand, bei der Mehrheit brannten allerdings die letzten noch verbliebenen Sicherungen durch. Plötzlich glaubten sie, dass Reus starke Ähnlichkeit mit einer hässlichen Ratte hatte — nur die Frisur bietet für diese Vermutung eine gewisse Grundlage — oder von einer Hure gezeugt worden sei. So wie ich 1995 mein Bravo-Sport-Poster von Heiko Herrlich verbrannte, als er seinen Wechsel zu — ja hoppla — Borussia Dortmund bekanntgab, so werden in dieser Woche am Niederrhein viele Trikots mit der Beflockung "Reus" im Garten verbrannt worden sein. Das ist die übliche Wut-Folklore. Zum perfekten Unglück fehlte nur noch, dass Reus zu den Bayern ging.

Warum aber reagieren Fans auf Vereinswechsel mit einem derartig entschlossenen Hass, der letztlich bloß mit -1 multiplizierte Liebe ist? Es sind doch Menschen, die mit einigen Ausnahmen psychisch gefestigt schienen. Und dann das. Ein Spieler geht, und alle rasten aus.

Es ist ein Gefühl, das die Anhänger von Spitzenvereinen und vom VfL Wolfsburg nicht kennen. Dort verlassen die Spieler die Vereine nicht, sie werden ausgemustert, verjagt oder verscharrt. Für alle anderen Fans aber gilt: Nach spätestens zwei Spielzeiten als Spitzenspieler verlässt der Spitzenspieler den Verein Richtung Dortmund/Bayern/Schalke/Ausland. In Gladbach hat das Tradition: Matthäus ging, Effenberg ging gleich zweimal, Herrlich ging, Dahlin ging, Deisler ging, Jansen ging, Marin ging. Es war ein einziges Gehen, immer dann, wenn der Spieler sich gerade zu Höchstleistungen aufgeschwungen hatte und die Borussen schon wieder von einem Revival der 70er träumten.

Warum jetzt aber diese Wut?

So ein Wechsel erinnert die Fans daran, dass der eigene Klub eben doch kein Spitzenverein ist. Das ist besonders für Anhänger von Borussia Mönchengladbach eine bittere Erkenntnis, schließlich spielte das Team in der Hinrunde wie ein Spitzenverein. Doch nur so aufzutreten reicht nicht aus. Marco Reus hat das in einem Interview — vermutlich unfreiwillig — zugegeben: "Ich möchte in der kommenden Saison den nächsten Schritt machen und bei einem Verein spielen, der um die Meisterschaft mitspielt und mir die Garantie gibt, in der Champions League zu spielen. Diese Chance gibt mir Dortmund." Aua. Dass Dortmund architektonisch ungefähr genauso bedauernswert ist wie Mönchengladbach, wird Reus verschmerzen.

Es ist alles so banal

Seine Aussage erinnert die Fans auch daran, dass der Spieler aus einem anderen Grund beim Verein ist als der Fan selbst. Beim Fan ist es ein unerklärliches, ein Leben lang anhaltendes Gefühl der Zuneigung, das je nach Verein auch viel mit Masochismus zu tun hat. Beim Spieler hingegen ist es eine Kombination aus Geld und Karrierechancen, mit anderen Worten: Vernunft. Auf der einen Seite also das Herz, auf der anderen der Verstand. Dabei hat sich der Fan erfolgreich eingeredet, dass eben auch der Spieler mit seinem Herz am Verein hängt. Ungefähr so, wie sich der 80-Jährige Millionär einredet, dass die 20-Jährige Sexbombe ihn aus Liebe geheiratet hat.

Es ist aber niemals so, von Leuten wie Lukas Podolski abgesehen, die einfach unfähig sind, außerhalb ihres gewohnten Biotops zu überleben. Der Spitzensport ist da nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Ein Verein ist ein Unternehmen und die Spieler sind Unternehmer. Wer hätte denn nicht ein Angebot angenommen, das ihm mehr Geld, mehr Aufmerksamkeit und mehr Herausforderungen bietet? Na sicher, alle Fans, die nun mit Reus-Trikots ihren Kamin befeuern, hätten geradewegs abgelehnt und darauf beharrt, auf ewig in der niederrheinischen Hauptstadt der Schlaglöcher zu bleiben. Die Wut über Reus' Wechsel ist auch die nicht gelinderte Enttäuschung darüber, dass die Welt eben doch furchtbar banal ist.

Ein Kollege erzählte mir kürzlich, dass Lucien Favre regelmäßig in jenem Park auf der Bank sitzt, in dem ich jogge. Seitdem hoffe ich jedes Mal, ihn dort zu treffen und mit ihm zu sprechen. Vergeblich. Ich frage mich, was er mir nach jenem schicksalsträchtigen Mittwoch gesagt hätte.

"Herr Favre, wie finden Sie denn, dass der Reus bald weg ist?" "Sebastian", hätte er möglicherweise gesagt, und mich mit jener Mischung aus Ernst und Verschmitztheit angesehen, zu der nur er fähig ist, "Sebastian, wir müssen weiter hart arbeiten." Dann wäre er aufgestanden und gegen den Wind gelaufen.

(seda)
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