Haldern Pop Haldern 2014 — ein Rückblick in zehn Kapiteln

Rees-Haldern · Das 31. Haldern Pop Festival brachte Regen, ein gereiftes Wunderkind und eine Band, die nicht aufhören wollte zu spielen.

Haldern Pop 2014 mit Patti Smith und viel Matsch
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Haldern Pop 2014 mit Patti Smith und viel Matsch

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Drecksschweine

Das Beruhigende an The Fat White Family ist, dass die britische Band in ihrer Heimat noch nicht gehyped wurde. Dann hat sie noch Zeit, sich in Ruhe weiterzuentwickeln. Nicht mal einen Wikipedia-Eintrag gibt es. Alles andere als beruhigend ist ihre Musik. Der gefühlt zehnminütige Einstieg in ihr Set am Donnerstagabend geriet schon deshalb so großartig, weil das Gitarrestimmen direkt in den ersten Song überging und skinny Sänger Lias Saoudi gleich mal sang, als hätten sie das Konzertende bereits erreicht. So dreckig und wild war eine englische Gitarrenband seit Jahren nicht mehr.

Watch out for…

… The Slow Show. Kein Haldern Festival ohne Band, die es in Zukunft noch weit bringen wird. In diesem Jahr muss dieses Prädikat unbedingt an The Slow Show aus Manchester gehen. Zusammen mit dem Chor Cantus Domus und den nimmermüden Berliner Musikern von Stargaze sorgten sie am Donnerstagabend im Spiegelzelt für — sorry für die Floskel, geht nicht anders — Gänsehautstimmung. Irgendwo zwischen The National und Lambchop, wie ein Zuschauer treffend bemerkte. Das Debütalbum steht noch aus und erscheint im Januar auf dem Label des Festivals. Wer im Spiegelzelt dabei war, kann sagen, sie schon gekannt zu haben, bevor sie jeder kannte.

Ist der irre?

Der Engländer Benjamin Clementine hat nicht nur eine Frisur wie ein Griff in die Steckdose, auch sonst gibt es einige Anzeichen dafür, dass der Sohn ghanaischer Eltern unter fortgeschrittenem Wahnsinn leidet. Was einem Künstler allerdings nie schadet. Irrer Blick, kaum hörbares Gemurmel ins Mikrofon… aber Klavierspiel und Gesang Donnerstagnacht waren so eindringlich und zärtlich zugleich, dass man ihm sein verstörendes Auftreten sogleich nachsah. Clementine ist noch ohne Album, aber auf dem Weg zu einer großen Karriere.

Immer mit der Ruhe

Aha, ein junger Mann mit Gitarre singt ruhige Lieder auf dem Haldern Pop Festival. Nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal… Aber der Engländer Nick Mulvey ist auf eine unaufgeregte Art anders. Er sei ein sanfter Mensch und mache auch gern sanfte Musik, sagt er. Gleichzeitig ginge es aber auch um das Unbewusste, den Rhythmus, den Groove, die hypnotische Wiederholung. Genau das zieht einen sofort in seinen Bann. Die meisten Songs sind ruhig, aber doch treibend. Man kann die Augen schließen oder mitwippen. So unaufgeregt wie seine Musik wirkt auch Nick Mulvey selber. Entspannt und selbstbewusst steht er auf der Bühne im Spiegelzelt. Womöglich würde man ihn auf der Straße nicht erkennen.

Mulvey hat Musik studiert und beherrscht mehr als die üblichen Akkorde, aber das geht nicht durch angeberische Solos zu Lasten der Leichtigkeit, sondern macht die so zurückhaltenden Songs nur noch reizvoller. Wer die Lieder auf der Gitarre nachspielen möchte oder ihn einfach nur noch mal spielen sehen möchte, findet hier Links zu Tutorials mit Nick Mulvey.

Ein Fan auf der Hauptbühne

Die Macher des Festivals schreiben ihre eigenen großen kleinen Geschichten. Eine handelt von einem jungen Mann namens Stefan Honig, der jahrelang als Fan das Festival besucht, dann auf dem Label von Haldern Pop unter dem Namen "Honig" seine Platte veröffentlicht, im Spiegelzelt spielt und schließlich 2014 auf der Hauptbühne. Dort, wo er seine eigenen Helden gesehen hat. Nun ist er selbst einer. "Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf Euch gefreut habe", rief er den Zuschauern am Freitagmittag entgegen. Auf dem Zeltplatz hat er auch in diesem Jahr übernachtet.

Sag mal, weinst du oder ist das der Regen?

Trotz anderslautender Ansichten verstärkt Regen nicht das Festivalgefühl, sondern vermiest es. Nicht besser wird es in Verbindung mit Windböen. Bis Freitagnachmittag blieb es trocken, dann regnete es sich allmählich ein, bis es schließlich zu Sam Smith richtig losprasselte. Sein Trost, er wünschte, es würde auch auf ihn regnen, damit er mit den Zuschauern fühle könnte, wirkte nicht so wirklich aufrichtig. Im Anschluss schüttete es besorgniserregend. Dass der Zeltplatz am nächsten Tag nicht aussah wie ein Schlachtfeld, gehört zu den größten Wundern des Festivals. Es blieb danach trocken bis zum Abpfiff.

Wer schreit denn da so?

Es gibt in Haldern genug Bands, die komplexe bis komplizierte Songs vortragen. Deshalb war es genau das richtige, am Samstagnachmittag die Augustines spielen zu lassen. Für die Konsensmomente, wie es Veranstalter Stefan Reichmann im Interview beschrieb. Gitarrenrock mit Melodien. Die New Yorker legten alles rein, reihten Hit an Hit an Hit und freuten sich ihres Lebens. Billy McCarthy dürfte seine Stimme noch immer nicht wiedergefunden haben. Am Ende wollten sie gar nicht von der Bühne gehen, kamen noch mal wieder, sangen mit dem Publikum und verschwanden Augenzeugenberichten zufolge dann doch. Dass ein Bass zu hören war, aber kein Bassist zu sehen, wollen wir der Band mal verzeihen.

Elf Jahre später

2003 stand ein junger, zierlicher, schüchterner Typ mit seiner Band Bright Eyes auf der Bühne des Haldern Festivals. Man hatte das Gefühl, ihn sogar vor den Mücken beschützen zu müssen. Als er dann noch mit den Zähnen gegen das Mikro stieß, ging ein mitfühlendes Oooo durchs Publikum. 2014 ist dieser Typ 34, heißt noch immer Conor Oberst und wirkt stark genug, um alleine zu bestehen. Mit den Dawes als Backing Band und den Damen von First Aid Kit im Background spielte er am frühen Samstagabend souverän neue Songs und alte Hits, als habe er schon 40 Berufsjahre auf dem Buckel. Was tatsächlich bald der Fall sein dürfte.

Steht auf, wenn Ihr Mitmenschen seid

Über das Spiegelzelt wird diskutiert, seitdem es steht. Ist man nach langem Schlangestehen erst mal drin, erwartet einen ein Sauerstoffgehalt von zwei Prozent und eine Luftfeuchtigkeit wie im Dschungel. Ein vermeidbares Ärgernis aber wären die Besucher, die bis kurz vor Konzertbeginn auf dem Boden sitzen. Diese Sitzignoranten nehmen unnötig Platz weg und sind außerdem eine beliebte Stolperfalle. Warum platzieren die Veranstalter dort nicht einfach eine Sicherheitskraft, die die Leute aufscheucht, sobald diese sitzen?

Was soll ich bloß essen?

Die Zeiten, in denen das Festival seine Besucher mit Pommes, Bratwurst und Asia-Nudeln abspeiste, sind längst vorbei. Falafel, Handbrot, Bio-Pommes und die holländische Cantina mit den Oben-Ohne-Köchen haben sich etabliert. In diesem Jahr neu: Ein Stand, der Nudeln mit Bolognese oder mit Tomätchen, Rucola und Pesto anbot. 7,80 Euro für eine Pappbox waren zwar nicht das unterste Ende der Preisskala, dafür kamen die Zutaten frisch aus der Tupperdose. Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Wann genau war am Crêpe-Stand keine Schlange von mehr als zehn Metern?

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