Lieder unseres Lebens Disco 2000 (Pulp)

Leipzig (RPO). Unsere Autorin schwärmt für "Disco 2000" von Pulp. Von Sänger Jarvis Cocker lernte sie, dass auch Nerds Erfolg haben – sie müssen bloß geduldig sein.

 Das Cover vom Album "Different Class".

Das Cover vom Album "Different Class".

Foto: Universal

Leipzig (RPO). Unsere Autorin schwärmt für "Disco 2000" von Pulp. Von Sänger Jarvis Cocker lernte sie, dass auch Nerds Erfolg haben — sie müssen bloß geduldig sein.

"Please understand. We don't want no trouble, We just want the right to be different. That's all".

Dieser Spruch hat mich einen Sommer lang geprägt. Und der Sommer dauert schon bald 14 Jahre. 1996 las ich die Zeilen im Booklet von Pulps Album "Different Class".

Die Hymne auf diesem Album ist bis heute "Disco 2000"". Nicht, weil vier Jahre später an Silvester der Wahnsinn der drei Nullen über uns hereinbrechen sollte. Auch nicht, weil das Lied tanzbar ist wie nichts Gutes. Denn wer zu dem Lied tanzt, tanzt auch auf Beerdigungen. Wer das gerne möchte, soll das natürlich tun. Aber dem Jungen, um den es in "Disco 2000" geht, kann ich nicht in die Augen schauen, wenn ich zu seinem Leid tanze.

Er ist groß und schlacksig. Er trägt eine Nerd-Brille, die erst 14 Jahre später in sein wird, und er ist noch Jahre davon entfernt, ein Mädchen küssen. Die Welt hatte Erlend Oye noch nicht lieben gelernt und war für Indie-Nerds noch nicht bereit.

Und eben wegen dieses Jungen, er heißt Jarvis Cocker, ist "Disco 2000" die Hymne des Albums und des Sommers. Es ist eine traurige Hymne über den Nerd, der in seine Sandkastenfreundin verliebt ist, die als beliebtestes Mädchen der Schule aber nicht daran denkt, sich in ihn zu verlieben. Das wirklich traurige an der Geschichte ist, dass sich das auch nicht ändert, als sie längst aus der Schule sind. Sie verlieren sich aus den Augen und die ehemaligen Freunde sind längst getrennte Wege gegangen.

Erst in der Realität findet diese Geschichte ihr glückliches Ende, mit dem Lied selbst. Es ist das Happy End für Pulp und für Jarvis Cocker: Pulp gibt es seit 1977 und bis 1996 waren sie wie die Figuren aus ihren Liedern: irgendwie unverstanden. 19 Jahre sind lang, wenn man auf den Erfolg wartet. Aber der Erfolg kam dann eben doch, ohne dass sie sich dafür je angepasst hätten — eine Erkenntnis, an der ich heute noch festhalte, denn sie verspricht die Hoffnung, dass irgendwann auch meine Zeit kommen wird.

Damit waren Pulp für mich die erste Band, die das Happy End nicht in ihren Liedern besangen, sondern es live vorführten. Und eine Band, die nicht einfach nur süß ist wie die damals schon nicht mehr angesagten New Kids on the Block. Eine Band, die nicht einfach nur gute Musik macht, sondern einem etwas fürs Leben lehrt.

Von Pulp lernte ich, dass wir durchaus besonders sein dürfen, dann müssen wir eben vielleicht ein wenig darauf warten, dass unsere Zeit kommt. Eine überlebensnotwendige Erkenntnis mit 15 Jahren. Ich hörte das Lied immer wieder, immer wieder die Zeilen: "Let's all meet up in the year 2000. Won't it be strange when we're all fully grown".

Selbst jetzt beim Tippen dieser Zeilen singe ich die Worte mit und meine Finger sind nicht so schnell wie die Melodie. Mir wird bewusst, dass 2000 schon wieder 10 Jahre her ist und ich noch nicht alle aus der Schule wieder getroffen habe.

Aber bin ich denn schon fully grown? Mit Sicherheit nicht. Bis zum Erwachsen-Sein ist noch viel Raum. Auch jetzt nach 14 Jahren noch. Ich merke das daran, dass ich überhaupt nicht sehen will, ob meine ehemaligen Klassenkameraden mittlerweile angekommen sind. Ich will sie nicht in sicheren Angestelltenverhältnissen und verheiratet sehen und mir bewusst machen, dass ich im selben Alter bin wie sie. Denn bis zum Erwachsen-Sein ist noch viel Raum. Dass ich heute hier sitzen und diese Zeilen schreiben würde, ahnte ich damals nicht, als ich sie hörte. Im Jahr 2000 — das klang 1996 mit 15 Jahren wie aus einer Science-Fiction-Utopie. Das Happy End noch nicht in Sicht.

Die Welt im Jahr 1996 sah ich vor allem durch die Nerd-Brille. Ich hängte mir Poster von diesem schlaksigen Typen an die Wand, malte ihn von Fotos ab und lernte die Texte seiner Lieder auswendig. Da ist plötzlich etwas, das mehr Begeisterung auslöst, als alles Andere bisher. Plötzlich hat alles mit Pulp zu tun. Wir müssen im Englisch-Unterricht ein Referat halten. Ich wähle als Thema Sheffield und erwähne, dass Joe und Jarvis Cocker aus der Stadt kommen. Wir sollten eine Geschichte schreiben und meine ist "Disco 2000". Ich lerne in der Zeit viel über britische Musik. Da mit war Pulp mit "Disco 2000" meine erste musikalische Liebe.

Für einige mag das wie das Schwärmen für jede beliebige Boyband klingen. Aber welche Schwärmerei dauert schon 14 Jahre und länger? Und in welchem Lied von welcher Boyband kann man auch nach 14 Jahren noch etwas Neues entdecken? Zum Beispiel die Ironie, die auch in Pulp steckt, wenn Jarvis Cocker heute auch noch aussieht wie vor 14 Jahren, die Nerd-Brille aber heute mit großer Selbstsicherheit trägt. Und ich mag den Gedanken, dass ich in 14 Jahren noch nicht zu erwachsen geworden bin, um ein Lied wie "Disco 2000" gut zu finden, dessen "offizielle deutsche Version" die Textzeile enthält: "Wir feiern heut' ne Riesenparty. Bringt doch noch Sekt und Brause mit. Zieht Euch bunte Socken an, das wird echter Party-Fun".

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