14 Stationen zu Johann Sebastian Bach

Der große deutsche Barockkomponist begleitet uns in diesen Tagen wie kein zweiter Musiker durch die Zeit. Eine Annäherung an seine Kunst, seine Gottesfurcht und sein Nachwirken in 14 Etappen / Von Wolfram Goertz

1. Ungeboren bei "Matthäus" Als ich meine erste "Matthäuspassion" hörte, saß ich etwas unbequem. Sie begab sich in der Karwoche 1961 im Konzertsaal meiner Heimatstadt, mein Vater sang im Chor, meine Mutter saß im Parkett, ich saß in ihrem Bauch. Bach hatte mir schon damals viel zu sagen. An Details erinnere ich mich nicht. Als ich meine erste "Matthäuspassion" spielte, saß ich 24 Jahre später als Cembalist des Kölner Uni-Orchesters in einem Konzertsaal von Neapel: ein ehemaliges Kino. Plötzlich, mitten im Arioso "O Schmerz!", fiel das Licht aus. Uns wurde etwas unbequem, doch wir erinnerten uns an alles. Der Satz ging im Dunkeln glücklich zu Ende. 2. Musik für die Herzchirurgie Viele Menschen wurden mit Bach groß, und täglich werden wir an ihn erinnert. Bach umgibt uns wie ein Mantel, den uns der Alltag liebevoll und zuverlässig überwirft. Es ist unmöglich, von Bach nicht beschallt zu werden. Die Badinerie aus der Orchestersuite h-moll ist ein Klingelton auf dem Handy, ebenso das Fugenthema aus Toccata und Fuge d-moll, die "Fugees" und Bruce Low haben die "Air" in den Hintergrund ihrer Songs geladen. Schriftsteller können ohne ihn nicht leben (wie Maarten t'Hart), Herzchirurgen ohne ihn nicht operieren (wie Christiaan Barnard). Wenn Bach da ist, wird alles gut. Seine Stimme ruft uns aus der Ferne zu: Ich bin bei euch alle Tage. 3. Melodien zum Staunen Durch Bachs Musik schreitet man wie durch Parkanlagen. Sie verwöhnen uns mit ihren Melodien. Jawohl: ihren Melodien! Nicht selten wird gerade der Melodiker Bach unter den Tisch der Bewunderung gefegt, weil man erzogen wurde, vor allem den Fugenkomponisten Bach ehrfürchtig zu bestaunen. Bachs selbsterfundene Melodien hören wir fast immer in der Ahnung, dass sie gleich in sehr verwickelte polyphone Konstruktionsverfahren hineingeraten, und das tun sie ja oft auch.

Aber die finster-expressive "Erbarme dich"-Arie der "Matthäuspassion", die weltentrückt-freie Aria der Goldberg-Variationen, der traurig schwingende Eingangssatz der Sonate c-moll für Violine und Cembalo - das alles sind Gesänge, zu deren Genuss der Verstand nicht zugeschaltet werden muss. Sie wickeln uns sacht und leise ein, begleiten und behüten uns wie Mütter, singen uns in den Schlaf und erlösen uns von ihm. Sie wärmen unsere Seele.

4. Kompressen in G-Dur Verlass ist bei Bach darauf, dass er bei seinen Erfindungen nie unter sein Niveau gerät. Bei Beethoven gibt es relativ viele minder bedeutende Stücke, bei Schumann auch, bei Händel erst recht. Bei Bach nie. Bach erkennt man sofort. Er ist auch im 63. Takt der zweiten Arie in Kantate 168 zweifelsfrei identifizierbar. Deshalb konnten wir damals in Neapel alle weiterspielen, obwohl wir die Hand vor Augen nicht sahen. Weil wir es gut geprobt hatten, ja gewiss, doch mehr noch, weil es bei Bach keine 08/15-Routine gibt.

Bei Bach herrscht noch der erlesene Kunstsinn des Hochmittelalters. Manchmal besteht diese Musik auch nur aus Verarbeitung, etwa im Mittelteil der G-Dur-Fantasie BWV 572 für Orgel. Da ist nichts, was auch nur annähernd nach Melodie riecht. Vielmehr werden die Harmonien durch die Kraft großer Verdichtung schier weitergeschoben, es herrscht ein Innendruck, als ob Bach der Musik Kompressen angelegt hätte.

5. Alles nur zu Gottes Ruhm Bachs letzte Takte sind oft imperiale Klauseln, ein prominenter Versammlungsort aller Stimmen, die zuvor unterwegs waren - oft auf Abwegen. Was bedeutete Bach eine Regel? Sie ist dazu da, gelockert oder an Grenzen geführt zu werden. Im Moment des polyphonen Ernstfalls ist Bach ein Dehner und Verknapper, jedes Thema darf geknetet und gewrungen, vergrößert und verkleinert, auf Reise durch die Stimmen geschickt werden.

Wie er das macht, das unterscheidet ihn meilenweit von Pachelbel und Kuhnau, Schütz und Vivaldi, Graupner und Telemann, die ja auch Meister waren. Bach zeigt uns in der extremen, in der vollendeten Weise, dass die Fuge keine Form, sondern ein Konstruktionsprinzip ist. Er verehrt sie, weil sie ihm die höchste Kunstfertigkeit abverlangt. Deshalb steckt in dieser Musik stets ein Appell an den Zuhörer: Kapiert ihr hoffentlich, wie es geht? Begreift ihr, wie ich mich unendlich mühe, damit es mühelos klingt? Versteht ihr, dass ich das vor allem um der hohen Kunst und des höheren lieben Gottes willen tue?

6. Geometrische Musik Bach verdient es, ein geometrischer Komponist genannt zu werden. Das Phänomenale seiner Musik ist, dass er gleichzeitig in Linien und in Säulen denkt. Die Linien sind die Stimmen, die Säulen sind die Akkorde. Selbst im schlichtesten Choral sind die Einzelstimmen Kunstwerke, in denen Bach lebendig spricht. Über die Mittel- und Unterstimmen entschlüsselt Bach in den Chorälen seiner Chorwerke gern theologische Aspekte. So gibt es in der "Johannes-Passion" den E-Dur-Choral "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn". Am Ende heißt es: "Und gingst du nicht die Knechtschaft ein, müsst' unsre Knechtschaft ewig sein".

Wie diese irdische Knechtschaft der unerlösten Menschheit in Musik zu uns kommt, das sieht und hört man eindrucksvoll. Bass und Tenor quälen sich in Halbtonschritten quer durch einen harmonischen Dschungel, wogegen sich der Alt in getreuem Sextabstand zum Melodiesopran ächzend in die Tiefe krümmt. Spannend, wie diese Stelle in den Noten aussieht: zweimal zwei Stimmgruppen, intervallisch zwanghaft beieinander, gerade so, wie das Schicksal der Menschen nicht ohne das Schicksal des Gottessohns begreifbar ist. Das Beispiel zeigt auch: Für Bach war Musik eine der Wissenschaften, eine Disziplin des Quadriviums, eine Gelehrsamkeit nicht nur wie die Mathematik. Musik war für ihn Mathematik.

7. Wunder im ersten Takt Bei der "Johannespassion" wird man schon im Eingangschor unruhig, wie bei einem Thriller, in dem man den Todesfall unabwendbar kommen sieht, das Buch trotzdem nicht aus der Hand legen kann. Ja, Bach zeigt das Klima seiner großen Werke immer im ersten Takt an. Bei der "Johannespassion" tut sich ein brodelnd erregter Grund in g-Moll auf. Bei der "Matthäuspassion" spannt sich eine feierlich-erhabene, aber sanft bewegte Klagefigur. Bei der h-moll-Messe schickt Bach die sich dissonanzenreich krümmende Anrufung des Kyrie wie durch ein mittelalterliches Kirchenportal. Im "Weihnachtsoratorium" sagt uns der erste Takt: Die Christenheit lässt es freudig krachen.

8. Leben und sterben lassen Manche Leute wundern sich, dass der erste Choral des "Weihnachtsoratoriums" (auf den Text "Wie soll ich dich empfangen") die Melodie des Passionschorals "O Haupt voll Blut und Wunden" trägt. Für Bach war das überhaupt nicht verwunderlich. Für ihn war das Ineins von Geburt und Sterben Kern des Glaubens. Ohnedies sah er sich angespornt, im theologischen Subtext musikalisch zu vermitteln. Wenn es um Geburt geht, darf der Tod aufscheinen, auf den der Geborene zugeht. Das Artifizielle in Bachs spiritueller Ordnung ist, dass das "Weihnachtsoratorium" mit dem gleichen Choral auch endet, nun auf den Text "Nun seid ihr wohl gerochen". Die dazu jubilierende Trompete mit ihrer D-Dur-Siegesmetaphorik verschleiert das überaus raffiniert. 9. Die Noten des Himmels Bach hätte seine geistlichen Werke nicht komponieren können, wenn ihn nicht symbolreiche Texte animiert hätten. Deshalb sei heute das Halleluja auf Bachs Textdichter gesungen. Bachs Texte sind für uns Heutigen ein Metaphern-Dschungel, in dem sich seine gebildeten Zeitgenossen indes nie verirrten. "Himmelsschlüsselblumen" (im Arioso "Betrachte, meine Seel" der "Johannespassion") pflückte der Leipziger Gottesdienstbesucher damals ohne Probleme. Unser Vorteil heute: Wir können die Noten gedruckt vor uns sehen - und somit auch, dass beim Wort "Himmel" die Bassstimme das Notensystem nach oben übersteigt. Das ist von Bach theologisch gedacht: göttliche Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus, der vom Himmel auf die Erde kam und in den Himmel zurückkehren wird. 10. Auto-Kleptomanie Bach hat geklaut, und nicht wenig. Regalmeterweise. Wir müssen uns jedoch klar machen, dass es zu seiner Zeit üblich war, dass man klaute. Das Plagiat bezeugte Ehrerbietung; einer, der oft bestohlen wurde (in Melodien vornehmlich), der war etwas wert. Bach hat aber vor allem bei sich selbst geklaut. Das machte er öffentlich, er war ein Auto-Kleptomane vor dem Herrn. Forscher nennen das Parodie. Bach, nicht selten in Zeitnot, hat seine eigenen Werke für neue Werke umgemodelt, wobei die Noten meist gleich blieben und nur neue Texte obendrauf kamen. Manchmal schrieb er eine weltliche Kantate und hatte schon eine geistliche als Umwandlungsziel im Kopf. Das "Weihnachtsoratorium" bietet in allen Teilen eine Wiederverwendung älterer Kantatensätze. Fruchtbarer Acker Bach!

Interessant ist, dass Bach kein künstlerisch-moralisches Problem darin sah, dass er den Eingangschor einer Glückwunschkantate zu einem geistlichen Gotteslob umfunktionierte. Drei Trompeten bezeugten Majestät und Glanz, egal ob irdischen oder göttlichen. Für die Parodierichtung vom Geistlichen ins Weltliche gibt es freilich keinen einzigen Beleg. Was einmal in der geistlichen Sphäre angekommen war, konnte nicht mehr für einen Kurfürsten nutzbar gemacht werden. Gott war für Bach die letzte Instanz, auch beim Klauen. 11. Gut zu Fuß im Pedal Mit Bach beginnt so manches Organistenleben, und ein besonders arges Stück ist das sogenannte Pedalexercitium g-moll: ein Übungsstück nur für Füße. Wozu braucht man das, fragt der Laie? Nun, Bach beansprucht den ganzen Leib - auch die Beine. Guckt man sich die großen Orgelwerke an, so verlangt Bach nach dem gymnastisch kompletten Virtuosen. Es gibt da Pedalsoli, die - gleichwohl von Kardiologen als gesundheitlich hilfreich empfohlen - den Rang einer physischen Strapaze annehmen. Die F-Dur-Toccata ist pittoresk. Da laufen erst zwei Stimmen kanonisch hintereinander, und wenn es sich dort ausgelaufen hat, darf das Pedal in einem grandiosen Solo noch einmal nachfüßeln, was soeben die Hände gespielt haben. Da beginnt jede Bank zu schaukeln. Für Organisten wäre es verheerend, wenn ihnen nachgesagt würde, sie hätten zwei linke Füße.

12. Für die ganze Familie Bach wird nicht grundlos als Komponist für die ganze Familie geschätzt. Die großen solistischen Geschenke (für Klavier, Orgel, Flöte, Violine, Cello) sind ebenso dabei wie leichte Hausmannskost für den Klavierschüler (kleine Präludien und Fugen); Kammerorchester können sich bei Brandenburgischen Konzerten und Orchestersuiten in jedem Tempo versuchen. Und natürlich hat man schon Kantoreien bei der h-moll-Messe den Offenbarungseid leisten hören. Aber haben diese Leute sich nicht ein halbes Jahr hingebungsvoll mit Bach beschäftigt? Muss man sie dafür strafen, wenn sie der Schwierigkeiten nicht Herr werden? Bach selbst schweigt stille, tadelt nicht.

13. Beim Wunderkind daheim Bachs kompositorisches Schaffen, so glauben manche, hat sich auf klar geschiedene Etappen aufgeteilt. Das ist nicht richtig. Die Brandenburgischen Konzerte beispielsweise hat Bach, sagt der Bachforscher Christoph Wolff, schon in Weimar und nicht erst in Köthen verfasst.

Da uns Bach selten als Wunderkind mozartischen Ausmaßes präsentiert wird, wollen wir festhalten: Er war eins, jedoch ohne verbürgtes biografisches Potenzial. Jedenfalls wissen wir wenig vom Menschen Bach. Zeit für Hobbies wird er kaum gehabt haben. Kinder indes liebte er über alles. Leider sind ihm die meisten seiner eigenen unter den Augen weggestorben. Wie hat Bach das verdaut? Wir wissen es nicht.

14. Die letzte, die erste Wahl Bach, der Thomaskantor. Fast wäre es ja nicht dazu gekommen.

Als Johann Kuhnau am 5. Juni 1722 starb, wurde in Leipzig die Stelle des Thomaskantors frei. Nach einem ersten Probespiel am 14. Juli wurde Georg Philipp Telemann gewählt - Bewerber Bach nicht, seine Kantate war zu anspruchsvoll. Telemann indes sagte ab, eine zweite Kantoratsprobe wurde anberaumt, bei der am 7. Februar 1723 Bach erneut kandidierte. Gewählt wurde Christoph Graupner - Bewerber Bach wieder nicht, denn auch seine neue Kantate war zu anspruchsvoll. Graupner indes sagte ab, in Darmstadt kam er nicht aus seinem Vertrag heraus, und die "dritte Wahl" wurde dann doch Thomaskantor: Es war Johann Sebastian Bach.

Er blieb dort bis zu seinem Lebensende. Immer wieder trug er sich mit dem Gedanken, Leipzig zu verlassen, trotzdem kann man sagen: Leipzig war das Beste, das Bach passieren konnte. Und uns sowieso.

(RP)
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