28 CDs ehren Günter Wand

Köln Wenn er die Eitelkeit, für ihn die größte aller Musikersünden, bei sich selber spürte, reagierte er nicht gelassen, sondern gnadenlos. Es sei sein Albtraum, klagte er, wenn in einer Aufführung "noch zu viel Wand drinsteckt und zu wenig Bruckner". Dann beugte er sich wieder für Wochen über eine Partitur und machte sich auf die Suche nach dem reinen, unverstellten Weg, an dessen Ende die Symphonik wie aus sich spricht, nicht aus ihrem Dirigenten.

Der Künstler als Exorzist: Günter Wand, der vor genau zehn Jahren im Alter von 90 Jahren gestorbene Großdirigent, war mit der tückisch-oberflächlichen Metaphysik des Musizierens seiner Kollegen bestens vertraut – mit Weihrauchschwaden bei Bruckner, mit süßen Glasuren bei Mozart, mit wonnigen Tempodehnungen bei Brahms, mit Betulichkeit bei Schubert. Wand wusste, was Künstler sich mitunter herausnehmen, wenn sie wehrlose Noten vor sich haben und sie zu Vehikeln ihres Personalstils machen. Diesen selbstbezüglichen Zirkel suchte der gebürtige Elberfelder zu durchbrechen. Platten hörte er ungern, er hasste die Routine der Reproduktion, nahm sich nichts als die Noten vor, die Quelle der Wahrhaftigkeit. Wenn es sein musste, zum x-ten Mal.

Jede Aufführung – das Wort "Interpretation" hasste er ebenfalls – war für Günter Wand eine Neuentdeckung, ein Urereignis, das natürliche Ergebnis einer schmerzvollen Schwangerschaft. So machte er es, seit er 1945 das Kölner Gürzenich-Orchester übernahm (dem er mehr als drei Jahrzehnte vorstand) und später mehr und mehr mit den Rundfunk-Sinfonieorchestern aus Köln und Hamburg, den Berliner Philharmonikern und anderen großen Orchestern arbeitete.

Jetzt hat Wands Plattenfirma RCA eine großräumige 28-CD-Box unter dem Titel "The Great Recordings" herausgebracht, darin Sinfonien von Beethoven, Brahms, Mozart, Schumann, Tschaikowski (mit dem NDR-Sinfonieorchester) sowie von Bruckner und Schubert (mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester); dazu Sinfonisches von Debussy, Mussorgsky, Strawinsky, Fortner, Webern und Martin; der Box ist zudem die DVD mit Wands letztem Fernseh-Interview beigefügt. Logisch erscheint es, dass die vieldiskutierte Bruckner-Sicht Wands in der frühen Kölner WDR-Version gespiegelt wird. Bot er dort noch die Direttissima, die kühne, enthusiastische, mitunter fast frostige Bewältigung eines Giganten, so schaute sich Wand mit dem NDR-Orchester und später den Berliner Philharmonikern sozusagen die Natur an, in welcher das Massiv steht.

Die Box bündelt einige faszinierende Aufnahmen, welche die betriebsblinde Legende vom reinen Bruckner-Experten Wand zerstören. Wer mag sich schon vorstellen, dass er ein scharfsinniger Tschaikowski-Dirigent war, welcher der 6. Symphonie h-moll die Weinerlichkeit der "Pathétique" austrieb zugunsten einer bohrenden, linear-analytischen Sehweise, die im Schlusssatz zu einer erstklassigen Trauer ohne Tränen führte? Wer möchte glauben, dass Wand dem Neoklassizismus Strawinskys mit lockerem Pfiff übers perückige Haar fuhr und doch jede Melodie frei atmen und schwingen ließ?

Ein eiskalter, abgebrühter Vollstrecker von Noten – in falsch verstandener Demut vor dem Komponistenwillen – ist Wand nie gewesen. Für ihn war alles Musizieren nicht an fehlerlose Mainstream-Glätte gekoppelt, solange es wie aus einem Guss, als logischer Strom aus dem Geist der Kunst daherkam. Der pingelige, ja beinharte Probierer Wand konnte überraschend großzügig sein, wenn ein Orchester den Nerv der Musik traf. Hauptsache, niemand begann zu interpretieren.

Info "Günter Wand – The Great Recordings"; 28 CD, 1 DVD; RCA 886919 11552 (Sony)

(RP)
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