32.000 Meilen über das Meer

1898 erforschte zum ersten Mal eine deutsche Expedition die Tiefsee - ein Buch schildert nun das fast vergessene Unternehmen.

Die Reise begann mit einer Untertreibung. "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus", sangen Besatzung und Ehrengäste, bevor die "Valdivia" sich kurz hinter Hamburg in Bewegung setzte. Das Schiff fuhr an jenem 1. August 1898 nicht nur raus aus der Stadt, sondern gleich auf Weltreise. Neun Monate sollte die erste deutsche Tiefsee-Expedition dauern. Der österreichische Autor Rudi Palla hat ihre Geschichte nun in dem Buch "Valdivia" aufgeschrieben.

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Forschung davon ausgegangen, dass bereits in ein paar Hundert Metern Tiefe kein Leben mehr möglich war. Diese Ansicht begann spätestens dann zu bröckeln, als sich an einem aus der Tiefe geholten Kabel Spuren der Meeresfauna fanden. Die Engländer schickten in der Challenger-Expedition (1872-1876) die erste wichtige Tiefsee-Erkundung ins Rennen, es folgten weitere Nationen. Deutschland fehlte noch, als sich Carl Chun, Doktor der Zoologie in Leipzig, dazu entschloss, die erste deutsche Expedition auf den Weg zu bringen.

"Soll ich Ihnen nun noch die Tunicaten, Mollusken, Würmer, Stachelhäuter und Korallenpolypen der Tiefsee eingehender schildern? Tage würden nicht ausreichen, um Ihnen eine annähernde Idee von dem gewaltigen Zuwachs an eigenartigen tierischen Organismen zu geben, welche die Erforschung der Tiefsee lieferte." So begeistert sprach er 1897 vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, deren Gunst er gewinnen wollte.

Mit ihrem Segen teilte Chun das Anliegen Kaiser Wilhelm II. mit. Dem kam der Plan gelegen, weil er dem Deutschen Reich einen Platz sichern wollte, der seiner wirtschaftlichen Stärke entsprach. Um den Weltmacht-Anspruch zu erfüllen, baute er mit Blick auf den großen Konkurrenten England vor allem die Kriegsflotte auf. Auch die Führungsrolle in der Meeresforschung sollten die Deutschen den Briten streitig machen. Der Reichstag bewilligte für die Expedition eine Summe, die heute knapp 1,9 Millionen Euro entspricht. Mit diesem Geld wurde unter anderem die "Valdivia" gechartert, ein Schraubendampfer der Hamburg-Amerika-Linie - 97,5 Meter lang, 11,2 Meter breit. Die Umbauarbeiten dauerten zwei Monaten. Danach hatte das Schiff einen Mikroskopierraum, Labore, einen Konservierraum, und jeder der Wissenschaftler seine eigene Kabine. Mit 43 Mann Besatzung verließ das Schiff im Sommer 1898 Hamburg mit dem Ziel, die Tiefen von Atlantik und Indischem Ozean zu erkunden.

Tiefsee-Expedition bedeutete Ende des 19. Jahrhunderts allerdings nicht, selbst abzutauchen. Die Entwicklung des U-Boots stand noch am Anfang. Stattdessen ließen die Wissenschaftler zunächst ein Lot ins Wasser, einen beschwerten Klavierdraht, um die Tiefe zu messen. Danach wurde ein an einem 10.000 Meter langen Stahlseil befestigtes Netz ins Wasser gelassen und bis auf den Grund versenkt. Das Schiff setzte sich in Bewegung und zog das Netz über den Meeresboden. Die tiefste gemessene Stelle lag 5911 Meter unter dem Meeresspiegel. - Die Reise führte das Team durch alle erdenklichen Klimazonen. Die Färöer, Kamerun, der Kongo, Kapstadt, Sumatra, die Malediven und Somalia gehörten zu den Stationen. Den südlichsten Punkt erreichten die Forscher, als sie schließlich nicht mehr gegen das Packeis ankamen. Die Netze förderten Erstaunliches zutage: Pfeilwürmer, Medusen, Seewalzen, Schlangensterne, auch völlig unbekannte Tiere waren dabei wie ein Tintenfisch in Vampirgestalt.

Wenn die Entdecker nicht mit Forschen beschäftigt waren, dann fingen sie Haie, bauten aus grünem Papier und Stäben einen Weihnachtsbaum oder kämpften gegen die Übelkeit auf hoher See. Bei einer Dampferfahrt in Kamerun infizierten sich neun Besatzungsmitglieder mit Malaria. Anfang Januar lag ausgerechnet der Arzt tot im Bett. Sein Leichnam wurde eingehüllt und dem Ozean übergeben.

Neun Monate lang durchfuhr die "Valdivia" Atlantik und Indischen Ozean, bis sie am 1. Mai 1899 im Hamburger Hafen eintraf. Knapp 32.000 Seemeilen hatte sie zurückgelegt (rund 60.000 Kilometer), die Nachbearbeitung dauerte Jahre. Der letzte der 24 Bände erschien im Jahr 1940.

Ins kollektive Gedächtnis Deutschlands schaffte es die Forschungsreise allerdings trotz der reichen Ausbeute nicht. Die erste deutsche Tiefsee-Expedition mag auch deshalb in Vergessenheit geraten sein, weil sich kein singuläres Ereignis zutrug, keine Katastrophe. Nichts, was man sich von Generation zu Generation weitererzählen könnte. Der Großteil der Aufzeichnungen beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Arbeit, wenig ist vom Alltag der Besatzung zu erfahren. Und obwohl es deshalb auch dem Buch über die "Valdivia" ein wenig an Abwechslung fehlt, so lohnt sich die Lektüre doch.

Erstens zeigt das Buch auf, was der Mensch in den vergangenen 100 Jahren zerstört hat. Die Naturparadiese, die die Besatzung der "Valdivia" noch zu Gesicht bekam und die laut den Beschreibungen von Forschungsleiter Chun für Ehrfurcht sorgten, sind weniger geworden. Klimawandel, Überdüngung und Verschmutzung gefährden die Unterwasserwelt beziehungsweise haben große Teil bereits vernichtet.

Zweitens bietet das Buch genügend Anknüpfungspunkte, um im Kopf zu verreisen. Als das Schiff durch den Südatlantik fährt, sucht die Besatzung auch die Bouvetinsel, die 73 Jahre lang niemand mehr gesehen hat. Die Männer haben schon fast aufgegeben, da taucht sie doch noch auf. Und wer dann die Insel bei Wikipedia nachschlägt, der ist bald mittendrin in der kuriosen Geschichte eines Eilands, das so weit entfernt von anderen Inseln oder Kontinenten liegt wie kein anderes Stück Festland.

Es gibt sogar eine eigene Internet Domain, .bv, die allerdings gerade nicht genutzt wird. Und sogleich will man auch wieder den Tiefsee-Klassiker der Literatur zur Hand nehmen, Jules Vernes' "20.000 Meilen unter dem Meer".

Es stimmt eben, was Carl Chun in seinem populärwissenschaftlichen Buch über die Reise, "Aus den Tiefen des Weltmeeres", gleich im ersten Satz schreibt: "Die Tiefen der Oceane haben seit alter Zeit mächtig die Phantasie der Menschen erregt; bald dachte man sie sich unergründlich und des organischen Lebens bar, bald hielt man sie für das Abbild des Oberflächenreliefs unserer Erde und belebte sie mit phantastischen Gestalten."

(seda)
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