Hitler berief sich auf Armenier-Genozid

Der Völkermörder fragte kurz vor Kriegsbeginn 1939: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"

1915/16 ließ die türkische Regierung anderthalb Millionen Armenier töten. Der Orientalist und Theologe Johannes Lepsius (1858-1926) publizierte mehrere Studien über diesen Völkermord. 1914 gründete er die "Deutsch-Armenische Gesellschaft". Rolf Hosfeld, der das Potsdamer "Lepsiushaus" leitet, analysiert in seinem Buch die armenische Katastrophe detailreich.

Auf Befehl Sultan Abdul Hamids II. wurden schon 1895/96 rund 100 000 Armenier niedergemetzelt. Türkische Soldaten wüteten mit orgiastischer Brutalität. "Plötzlich brach eine unkontrollierte Raserei aus. Türen wurden eingeschlagen, Mauern niedergerissen, Brände gelegt, die Männer ermordet, die Frauen auf dem Markt zum Kauf angeboten". Lepsius schrieb 1915 in Konstantinopel: "Es ist unsagbar, was geschehen ist und noch geschieht. Die vollkommene Ausrottung der Armenier ist das Ziel".

Der stete Niedergang des Osmanischen Imperiums entfesselte jene tödliche Lawine. Ihrer europäischen Kolonien verlustig gegangen, glaubten die Türken, dass sogar Konstantinopel bedroht sei. Am meisten fürchtete der Sultan Russland, das er verdächtigte, die christlichen Armenier zu unterstützen, die Schutz gegen Plünderer forderten und größere Autonomie erstrebten. Abdul Hamid wollte das geschrumpfte Reich festigen, Kleinasien "türkisieren", wo etwa zwei Millionen Armenier lebten. Dabei hatte Armenien schon lange vor der osmanischen Eroberung existiert. Obwohl sie 66 Prozent der Wissenschaftler und drei Viertel der Industriellen des Reiches stellten, galten Armenier als "Feinde im eigenen Land".

"Jungtürkische" Revolutionäre erniedrigten Abdul Hamid 1908 zur Nebenfigur; seit 1913 regierten sie diktatorisch. Erneut verübten türkische Truppen Massaker, denen zehntausende Armenier zum Opfer fielen. Laut Hosfeld habe türkische "Paranoia" die Armeniermorde mit verursacht. Während des Ersten Weltkriegs kämpfte das osmanische Reich an der Seite Deutschlands. Ende 1914 erklärte Russland der Türkei den Krieg, die zahlreiche Niederlagen erlitt, wodurch der Hass gegen armenische Christen zunahm, die angeblich Russland begünstigten, dem das östliche Armenien gehörte. Nun verlangten jungtürkische Politiker, die "Endlösung der Armenierfrage" herbeizuführen. "Wir Türken müssen die Armenier entweder ausrotten oder zur Auswanderung zwingen".

Das Militär deportierte die armenische Bevölkerung 1915/16 in Wüsten, abgelegene Gebirge, unversorgte Gefangenenlager, um sie zu vernichten. Bereits auf den Märschen dorthin starben viele Armenier bei systematisch organisierten Massakern. "Wie Holz trieben die Leichen unzähliger ermordeter Armenier auf dem Euphrat".

An diesem von oben gelenkten Genozid nahmen Kurden teil. Über verwaiste armenische Kinder, deren Eltern liquidiert waren, schrieb ein Deutscher: "Hier saßen sie, Kopf an Kopf, Knaben und Mädchen, vertiert, verhungert, ohne die geringste menschliche Hilfe". Die deutsche Reichsleitung wusste alles, aber Kanzler Bethmann-Hollweg dachte nicht daran, die verbündeten Türken zu kritisieren. 1918 flüchtete der ehemalige Innenminister Mehmet Talaat, der den Völkermord gesteuert hatte, an Bord eines kaiserlichen U-Boots nach Deutschland. In der Berliner Hardenbergstraße erschoss ihn 1921 ein armenischer Student; die deutsche Justiz sprach den Attentäter frei. Wer heute in der Türkei die Armenier-Massaker erwähnt, landet oft im Gefängnis.

Hitler glaubte, dass die Mordtaten, die er plante, irgendwann der Vergessenheit anheim fielen. "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?", fragte er am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg. Dieses Buch macht das Schicksal der Armenier einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

(RP)
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