Essay Alles Lüge

Während die Lüge zum politischen Schraubenschlüssel erwächst, ringt eine Gesellschaft mit ihrem Verhältnis zur Wahrheit. Das Vertrauen verliert an Klebkraft.

Essay: Alles Lüge
Foto: Walt Disney Co./dpa

Es ist ein Dienstagabend, das Telefon klingelt. Thomas, mein guter Kumpel, bittet mich um einen Gefallen, wie er sagt. Wenn seine Frau bei mir anruft, soll ich sagen, dass wir am Wochenende gemeinsam beim Fußball waren. Wir hätten eine Bratwurst gegessen und zwei, drei Biere getrunken und Zeugs gequatscht. Mehr nicht. Es war ein Testspiel, sagt Thomas, weil - so weit hat er gedacht - die Saison gerade eigentlich eine Pause macht.

Ich ringe also mit mir, weiß nicht recht, wie ich auf sein Anliegen reagieren soll. Er ist ein Freund, und Freunden hilft man natürlich. Aber wir waren nie bei diesem Fußballspiel, haben keine Bratwurst gegessen und kein Bier getrunken, ja, wir haben uns nicht einmal gesehen. Thomas war, so viel weiß ich, bei einer anderen Frau. Warum er bei ihr war, ist mir nicht ganz klar. Er weicht der Erklärung verlegen aus. Thomas fleht mich bloß an zu lügen.

Die Lüge, so heißt es jetzt oft, ist auf dem bedingungslosen Vormarsch. Die Wahrheit hingegen verwässert. Ein Mann, der den Klimawandel leugnet, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Ein Staat verlässt die Europäische Union, auch weil die Befürworter dieses Schrittes dem Volk vorab Märchen erzählen. Menschen gehen in Deutschland auf die Straße, weil sie glauben, dass ein Kartell aus Politik und Medien die Wahrheit um die wirkliche Wahrheit bereinigt.

Dabei ist die Lüge so alt. Sie ist sogar älter als der Mensch. Die Natur hat uns schon viel häufiger ausgetrickst als wir sie jemals werden austricksen können. Der reizende Schneeschuhhase etwa, der in den Weiten Nordamerikas seine Heimat hat, wechselt im Winter seine Fellfarbe. Er ist dann nicht mehr braun, sondern weiß. So weiß wie der Schnee. Er tarnt sich, versteckt sich, gibt sich eine andere Hülle, um sich selbst zu schützen, vor Räubern und damit schlussendlich dem Tod.

Ein kleiner Test. Welcher dieser Aussagen würden Sie zustimmen: 1. Die Erde ist rund. 2. Die globale Temperatur steigt. 3. Von Flüchtlingen geht eine Gefahr aus. 4. Die EU ist ein Friedensbündnis. 5. Donald Trump ist ein Schneeschuhhase? Denken Sie ruhig nach, das Wenigste ist offensichtlich. Aber was ist wahr, was ist falsch? Woher wissen wir eigentlich, dass die Erde wirklich rund ist?

Die Lösung heißt Vertrauen. Wir vertrauen darauf, dass die Erde rund ist, weil wir keine gegenteiligen Erfahrungen machen. Aber auch, weil es uns jemand sagt, dem wir glauben. Die Erdkundelehrerin, der Großvater, Wikipedia, aber auch Bilder. Aber da gibt es eine Schwierigkeit. Wenn es nämlich ein Feld gibt, in dem der Mensch dem Schneeschuhhasen hoffnungslos unterlegen ist, dann dieses: Der Mensch muss vertrauen.

Der Bäcker mischt kein Gift ins Brötchen, die Busfahrerin ist nicht betrunken, der Nachbar entzündet das Haus nicht. Wir wissen das alles nicht, aber wir hoffen, dass es so ist - und auch so bleibt. Umso unerträglicher wird es, wenn jemand dieses Vertrauen bricht. Wenn der Partner fremdgeht, die Freundin hintergeht, der Bruder einen ins Gesicht lügt. Aber gibt es Situationen, in denen auch der Mensch sein Fell wechseln darf? Also täuschen oder gar lügen?

Das Gegenteil des Vertrauens ist das Misstrauen. Und es wirkt wie Gift. Dieses Gift steckt nicht in Brötchen, sondern in enttäuschten Erwartungen. Und es breitet sich derzeit so rasant aus, dass Polizisten und Journalisten, Feuerwehrleute und Politiker der Lüge bezichtigt werden. Die Lüge ist in die gute Stube der Deutschen, Franzosen, Amerikaner und Briten eingezogen. Weil wir weniger vertrauen, scheint es mehr Lügner zu geben. Lügner aber nennt man nie sich selbst. Der Klebstoff des Vertrauens verliert an Kraft.

Nicht jede Unwahrheit ist indes eine Lüge. Wer wollte den Homosexuellen, der eine Familie mit Frau und Kind gegründet hat, einen Lügner nennen? Oder die Mutter eines Sechsjährigen, die auf die Frage, warum Oma nur noch im Bett liegt, sagt, sie sei sehr müde? Oder den Analphabeten, der vorgibt, die Sprache vollumfassend zu beherrschen? Oder den Werber, der stets das Positive betont?

Damit die Unwahrheit zur Lüge wird, bedarf es einer Art des Vorsatzes. Der Lügner will lügen. Aus Bequemlichkeit, weil es der einfachere Weg ist, der des geringeren Widerstandes, weil er sich selbst schützen will, wie der Schneeschuhhase, und dann aber auch, weil es einfach schlechte Menschen gibt. Jemand fühlt sich belogen, wenn er über den tatsächlichen Sachverhalt getäuscht worden ist. Wenn er vertraut hat und das Vertrauen gebrochen wurde. Die Lüge lässt sich von der Täuschung nicht trennen.

In Bertolt Brechts Drama "Das Leben des Galilei" gerät Galileo Galilei in einen berühmten und uralten Konflikt. Während er widerlegen will, dass nicht die Erde Zentrum des Universums ist, sondern die Sonne, glaubt die Kirche an ihre alte Lehre. Im neunten Bild lässt Brecht seine Figur Galilei eine These für die Ewigkeit sagen: "Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!"

Bertolt Brecht war ein wirklich kluger Mann. Aber wenn wir seine Definition einmal zugrunde legen, dann wäre unser reizender Schneeschuhhase kein Verbrecher, Donald Trump hingegen schon. Und wenn nicht, dann zumindest ein Dummkopf. Beides wärmende, ja, beinahe tröstende Gedanken, aber kein bahnbrechender Fortschritt. Einen Dummkopf einen Dummkopf zu nennen, ist keine besondere Leistung.

Wie viele Dummköpfe, wie viele Verbrecher würde es geben? Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal gelogen? Und warum? Wussten Sie es nicht besser oder aber schon und haben es sich bequem eingerichtet, sind dem Konflikt ausgewichen? Mussten Sie das Vertrauen von jemandem brechen? In wohl jedem von uns steckt ein Teil des Schneeschuhhasen, in wohl jedem von uns steckt auch ein Teil Donald Trumps. Mit dem Unterschied, dass wir weder ein niedliches Tier noch US-Präsident sind.

Der Künstler Andreas Gursky verfälscht Fotos. In seinem irrsinnig teuren Werk "Rhein II" hat er einen Passanten und ein Kraftwerk wegretuschiert, beides ist einfach verschwunden, nicht zu sehen. Ein ahnungsloser Betrachter könnte glauben, dass beides indes gar nicht verschwunden ist, sondern nie da war. Würde Brecht Gursky einen Dummkopf nennen oder einen Verbrecher? Wohl nicht. In der Kunst gilt seine Technik als raffiniert. In den hyperventilierenden Medien des Internets aber können verfälschte Fotos über Krieg und Frieden entscheiden. Sind das russische Soldaten auf der Krim? In Polen? In Russland? War das gestern, vor drei Jahren, oder heute?

Thomas' Frau hat mich übrigens nie angerufen. Das war ein großes Glück. Weil ich bis heute nicht weiß, was ich gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte ich gesagt, dass wir gemeinsam beim Fußball waren, ein Testspiel. Wir haben Bratwurst gegessen und zwei, drei Biere getrunken, ein bisschen Zeugs gequatscht, mehr nicht. Ich hätte meine Freundschaft gerettet und eine Ehe - zumindest vorerst. Und ich hätte gelogen, obwohl ich die Wahrheit gekannt hätte. Ich weiß nicht, ob das dumm gewesen wäre oder ein Verbrechen. In jedem Falle aber: bequem.

(her)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort