70 Jahre nach dem D-Day Als die Alliierten uns von Hitler befreiten

Düsseldorf · Vor 70 Jahren, am 6. Juni 1944, begann die Landung der Alliierten in der Normandie. Ein deutscher und ein amerikanischer Soldat schildern die Dramatik der Ereignisse jeweils aus ihrer Perspektive.

 Vor 70 Jahren, am 6. Juni 1944, begann die Landung der Alliierten in der Normandie.

Vor 70 Jahren, am 6. Juni 1944, begann die Landung der Alliierten in der Normandie.

Foto: dpa

Helmuts Römers Begegnung mit dem Grauen des Krieges dauerte ganze 36 Stunden, geschossen hat der Hildener nur mit einer Signalpistole. Doch die Szene, als er in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 an einer Kanalbrücke in der Normandie eine Leuchtkugel abschoss, machte Römer weltberühmt: Der damalige Obergrenadier, heute 88 Jahre alt, war der erste deutsche Soldat, der bei der großen Invasion der Alliierten in Frankreich Feindkontakt hatte.

Britische Fallschirmjäger nahmen kurz nach Mitternacht die Brücke bei Caen im Handstreich, um Wehrmachtsverbänden an der Ostflanke der Invasionstruppen einen Gegenangriff unmöglich zu machen. Römers Einheit sollte einen der nur zwei Übergänge über den Caen-Kanal sichern, rechnete aber nicht mit dem nächtlichen Angriff aus der Luft. "Ich habe viel Glück gehabt", sagt der Hildener, der später Vater von sechs Söhnen werden sollte. Damals wusste der junge Soldat nicht um die taktische Bedeutung jener Brücke, die später "Pegasus-Bridge" genannt wurde - zur Erinnerung an die Fallschirmjäger, die das fliegende Pferd aus der griechischen Mythologie als Wappen auf dem Ärmel trugen.

Die Alliierten bezeichnen den Kampf um die Pegasus-Brücke als eine der bedeutendsten Luftlandeoperationen des Zweiten Weltkriegs. In vielen Filmen und Büchern ist der Wachposten Helmut Römer erwähnt, neuerdings auch in Computerspielen und natürlich im berühmten Spielfilm "Der längste Tag" von 1962. "Ja, wie mein Double die Leuchtkugel abschießt und 'Alarm?' ruft, so war es damals", sagt der Veteran. "Dieser Film stellt alles originalgetreu dar."

Der Deutsche Helmut Römer

Ein wenig stolz ist der Hildener schon darauf, dass er als einfacher Obergrenadier (ein heute nicht mehr verwendeter Dienstgrad für Soldaten, die nicht als Gefreite geeignet erschienen) im Namensverzeichnis eines französischen Geschichtsbuchs neben dem damaligen US-Präsident Franklin D. Roosevelt und dem deutschen Feldmarschall Erwin Rommel aufgelistet ist - als "Helmut Romer", denn mit dem korrekten "Ö" haben viele ausländische Autoren offenkundig Probleme. In einem amerikanischen Internet-Forum ist "Romer" gar "the first German troop killed in direct defence of Festung Europe" ("der erste gefallene deutsche Soldat bei der Verteidigung der Festung Europa") - zum Glück irren hier die Hobby-Historiker.

Korrekt ist die Geschichte so: Römer hatte in jener Nacht, die zu seinem persönlichen "längsten Tag" geworden ist, auf der Brücke Wache und wartete auf die Ablösung, die sich verspätet hatte. Als er plötzlich ein lautes Knirschen und Krachen hörte, glaubte er zunächst, Teile eines abgeschossenen feindlichen Flugzeugs seien in der Nähe eingeschlagen - die deutsche Flak schoss gerade auf von England einfliegende alliierte Bomber. Doch es waren Lastensegler, die direkt an der deutschen Stellung gelandet waren; insgesamt 181 britische Soldaten unter Führung von Major John Howard stürmten auf die Brücke zu. "Sie waren überall, es ging alles sehr schnell", erinnert sich Römer. "Wir hatten keine Chance."

Während die rund 15 anderen, meist im Schlaf überraschten deutschen Soldaten niedergeschossen wurden, gelang dem Hildener mit zwei Kameraden die Flucht. Anderthalb Tage versteckten sich die drei in einem Holundergebüsch am Kanal und beobachteten, wie immer mehr britische Truppen eintrafen. "Wir hatten mit dem Leben abgeschlossen. Schließlich haben wir uns ergeben, trotz der großen Angst, dann getötet zu werden."

Doch die Briten waren fair, wie es Römer beschreibt, und misshandelten die drei Wehrmachtssoldaten nicht. Mit Hunderten anderen Kriegsgefangenen musste er allerdings am Strand stundenlang auf Landungsboote warten, die die Deutschen nach England bringen sollten. "Das Wasser stand uns bei Flut fast bis zur Brust." Der Hildener hatte indes erneut Glück im Unglück: Die Lungen- und Rippenfellentzündung konnte er in Kanada ausheilen, eine Zeit, von der er immer noch schwärmt: "Im Vergleich zu vorher war das Kriegsgefangenlager mit Blick auf die schneebedeckten Rocky Mountains doch der Himmel auf Erden." 1947 kehrte er in seine Geburtsstadt zurück und baute den elterlichen Getränkehandel wieder auf, "noch mit Pferd und Wagen haben wir ausgeliefert". Zufrieden kann der ungewollt berühmt gewordene Römer auf sein Lebenswerk zurückblicken: Das renommierte Hotel am Stadtpark, auf dem Trümmergrundstück einer Seidenweberei errichtet, gehört dazu.

Der Feind John Howard, der ihm damals gegenüberstand, besuchte ihn Mitte der 80er Jahre in Hilden und wurde zum Freund. 1999 starb der in England als Held gefeierte Erstürmer der Pegasus-Brücke. Den Kriegsschauplatz von 1944 hat Römer mehrfach besucht und musste feststellen, dass es den historischen Übergang und das lebensrettende Holundergebüsch nicht mehr gibt, dafür aber Denkmale und Museen, in einem ist auch die alte Brücke ausgestellt.

An den Feiern zum Jahrestag der Invasion nimmt Römer diesmal nicht mehr teil, obwohl er hellwach und ungewöhnlich rüstig wirkt. "Die Franzosen wollten mich sogar abholen, aber es ist mir zu anstrengend geworden." Stattdessen gibt er wie jedes Jahr zahlreiche Interviews - gerade waren Reporter der französischen Zeitung "Le Figaro" im Hotel. Auch ihnen berichtet er geduldig über die Stunden in der Normandie, die Geschichte schrieben: "Danach begann mein zweites Leben."

Der Amerikaner Harold Baumgarten

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Der D-Day beginnt grau und windig und kalt, die Füße sind starr und steif nach drei Stunden Fahrt in dem kleinen Boot. Wenn Harold Baumgarten erzählt, ist es 6.40 Uhr morgens, es ist der 6. Juni 1944, und Baumgarten, ein Teenager aus New York, landet mit der ersten Angriffswelle am Omaha Beach. Mit der Selbstmordwelle, wie er sie nennt.

Sie sind ausgelaugt, denn mit ihren Helmen mussten sie pausenlos Wasser aus dem Boot schöpfen, Wasser und das Erbrochene von Seekranken. Die Pumpe reichte nicht bei den meterhohen Wellen im Ärmelkanal. Vor ihnen fährt ein Boot auf eine Mine, Holzplanken und Körperteile fliegen durch die Luft, es regnet Blut. Den jungen britischen Matrosen am Steuer packt die Angst vor weiteren Minen, weshalb er sich nicht dichter an den Strand heranwagt. Die Klappe, über die 30 Amerikaner das Boot verlassen sollen, lässt er so früh herunter, dass Baumgarten, knapp 1,80 groß, bis zum Hals im Wasser steht. Der Mann, der direkt vor ihm über die Rampe gerannt ist, Clarius Riggs aus Pennsylvania, ist tot, noch bevor er das Wasser erreicht.

Ungefähr ahnte Baumgarten, was ihn erwartete. Drüben in England, wo seine Einheit - 29. Infanteriedivision, 116. Regiment, Company B - wochenlang für die Invasion übte, hatten sie Luftbilder studiert. Am Omaha Beach, wussten sie, glich der deutsche Atlantikwall einer nahezu uneinnehmbaren Festung. Am Ufer, nur bei Ebbe sichtbar, Landminen und Spanische Reiter, Stahlkreuze, die Panzer aufhalten sollten. Überall Stacheldraht. In den Klippen die Bunker mit den gefürchteten Maschinengewehren.

Irgendwann erreicht Baumgarten die Spanischen Reiter, plötzlich spürt er, wie das Gewehr in seinen Händen vibriert. Schüsse hatten das Magazin getroffen, "das Magazin hat mein Leben gerettet". Er wirft sich zu Boden und sieht, wie Robert Dittmar, 19 Jahre alt wie er selber, schwer verletzt auf eine der Panzersperren zu stolpert, noch einen Satz macht und auf dem Rücken landet. "Es hat mich erwischt, Mama. Mutter!", schreit Dittmar, bevor er verstummt. "Dann taumelt mein Sergeant heran, Clarence Roberson, ohne Helm, auf seiner Stirn ein klaffendes Loch, das blonde Haar blutverschmiert." Roberson kommt noch bis zu einer Betonmauer am Ufer, kniet nieder und beginnt zu beten, einen Rosenkranz in den Händen. Die Salve eines Maschinengewehrs reißt ihn buchstäblich in zwei Teile.

Als Nächstes detoniert im Sand eine Granate, deren Splitter Baumgarten ein Stück der Wange wegreißen und seinen Kiefer links oben zerschmettern. Er kriecht zu der Mauer, an der Roberson gestorben ist. Dort liegt auch Robert Garbett, sein bester Freund, mit dem Gesicht nach unten im seichten Wasser.

Wenn Baumgarten erzählt, klingt er wie ein akribischer Militärhistoriker, der Wert darauf legt, dass jedes Detail stimmt. Er bauscht nichts auf, glorifiziert nichts - und lässt nichts weg, nur weil es sich makaber anhören könnte. Die Namen seiner Kameraden, ihr Alter, sogar ihre Körpergröße - alles hat er auf Anhieb parat, es hat sich eingebrannt in sein Gedächtnis. Um Rache an den Deutschen, sagt er gleich zu Beginn des langen Gesprächs, sei es ihm nicht gegangen. Wohl aber um Würde. Baumgarten trug eine Tarnjacke, auf deren Rückseite er einen Davidstern malte, dazu die Worte Bronx, New York. Baumgarten ist Jude, er stammt aus der Bronx, an der High School dort hat er das Fußballspielen gelernt von jüdischen Mitschülern, deren Familien aus Europa fliehen mussten. Das mit dem Davidstern, sagt er, sei eine Trotzhandlung gewesen.

Eigentlich wollte er zur Luftwaffe, daraus wurde aber nichts, und im Juni 1943 kam der Einberufungsbefehl zur Armee. Baumgartens Einheit wurde an die britische Südwestküste verlegt, in die Nähe von Plymouth. Bevor sie am Abend des 5. Juni 1944 an Bord der "Javelin" gingen, gab ihm sein Kumpel Garbett noch einen praktischen Rat: Zieh die schwere Kampfjacke nicht an. Sie wird sich im Nu mit Wasser vollsaugen und dich nach unten ziehen, du wirst darin ertrinken.

Nachmittags gegen fünf, die Hänge hinauf zum Dorf Vierville-sur-Mer waren inzwischen gestürmt, robbt Baumgarten neben einer Landstraße auf eine Hecke zu, als ein stechender Schmerz durch seinen linken Fuß zuckt. Er ist auf eine Mine getreten, aus der sich eine Kugel löste und den Fuß durchbohrte. In der Nacht kommen sie erneut unter Beschuss, er wird zum fünften Mal verwundet, spritzt sich Morphium, um den Schmerz zu betäuben, und nickt ein. Im Halbschlaf spürt er eine Hand auf seiner Schulter und hört gebrochenes Englisch: "Don?t worry, Yankee Boy, it will be fine". Eine deutsche Patrouille, erfährt er Jahre später, durchsuchte die Uniformen toter Amerikaner nach Zigaretten, entdeckte dabei, dass einer noch lebte - und sprach ihm Trost zu.

In derselben Nacht lesen ihn die eigenen Rettungssanitäter auf. Im August, nach zwei Monaten in britischen Lazaretten, ist Baumgarten zurück in der Bronx. Am 14. Februar 1945 sitzt er im Hörsaal der New York University, um sein Studium fortzusetzen, Biologie und Chemie. In den 50er Jahren wird er zusätzlich Medizin studieren. Seit 40 Jahren lebt er in Jacksonville in Florida, wo er sich als Arzt niederließ und medizinischer Direktor eines Versicherungskonzerns wurde. Es dauert bis 1988, ehe er in die Normandie zurückkehrt. Vorher konnte er über den D-Day einfach nicht sprechen, nicht mal mit Rita, seiner Frau.

(mic, fh)
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