Als Hiddensee freie Republik war

Lutz Seiler setzt mit seinem ersten Roman "Kruso" der Insel ein Denkmal.

Es gab einen Ort, der schien, als hätte er sich ein Stück weit von der DDR entfernt. Wie eine Arche trieb die Insel Hiddensee vor dem Land. Als wolle sie sich irgendwann ganz losmachen. Ein Sehnsuchtseiland, das Freiheit verhieß. Und war es nur für ein paar Tage im Sommer. Aussteiger und Gestrandete jobbten als Kellner oder Tellerwäscher auf der Insel und schauten zu den weißen Kreidefelsen der dänischen Insel Møn hinüber, die wie eine Verheißung übers Meer strahlte. Gerade einmal 50 Kilometer entfernt und doch so fern. Nicht wenigen wurde diese Versuchung zum Verhängnis. Sie landeten in den Armen der Küstenpatrouille. Oder sie wurden tot in Dänemark angespült.

Lutz Seiler verbachte den Sommer 1989 auf Hiddensee. Er war eine dieser "Esskaas", wie die Saisonkräfte einander nannten. Mit seinem lange erwarteten ersten Roman "Kruso", der gute Chancen auf den Deutschen Buchpreis hat, setzt der bislang eher als Lyriker bekannte Seiler der Inselszene jetzt ein beeindruckendes Denkmal. Sprachgewaltig und mitunter manisch besessen. Ein manchmal ausuferndes Buch, mit Wahn- und Traumsequenzen, die nicht immer leicht zu ertragen sind. Aber auch mit fast dokumentarischen Passagen, die einem Schauer über den Rücken treiben. Dazu voll von literarischen Anspielungen, die von Daniel Defoe über Novalis, Georg Trakl, Rimbaud bis zu Uwe Johnson oder Wolfgang Hilbig reichen. Dennoch authentisch und selbst erlebt. Es ist durchaus kein Zufall, dass die Hauptfigur Ed im Buch Züge des 1963 in Gera geborenen Lutz Seiler trägt.

Nach dem Unfalltot seiner Freundin G. ("quer über die Gleise") bricht Edgar Bendler, kurz "Ed", das Germanistik-Studium in Halle ab und flieht nach Hiddensee, in diesen "Vorhof des Verschwindens". Dort heuert er im Betriebsferienheim "Klausner" an und findet in Alexander Krusowitsch, genannt "Kruso", der als "König der Insel" der subversiven Szene vorsteht (und eine Hommage an Aljoscha Rompe ist, der als Sänger der Punkband "Feeling B" Anlaufpunkt für viele Alternative war), einen Geistesverwandten, der ihn in die Geheimnisse der "Freien Republik Hiddensee" einführt: Ob es die Suppe ist, die täglich denen gereicht wird, die ganz ohne Geld und ohne Aufenthaltsgenehmigung auf die Insel kommen. Oder die Bettenvermittlung: In Eselställen, im Schilf - sogar im Bett Gerhart Hauptmanns im Kloster werden Obdachlose einquartiert.

Eine verschworene Gemeinschaft ist dieser Haufen von "Schiffbrüchigen", wie Kruso sie nennt, die in einer "Form legaler Illegalität in einem Land" leben, "das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten." Ein Staat im Staat, in dem sich Ed schnell geborgen fühlt. "Wer hier ist, hat das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten."

Doch immer mehr löst die Schicksalsgemeinschaft sich auf. Einer nach dem anderen verschwindet. Die Stasi schürt Misstrauen unter ihnen. Andere wollen nach Ungarn, wo über die Botschaft täglich Tausende das Land verlassen. Als im November 1989 die Grenze öffnet, halten nur Ed und Kruso wie im Wahn die Stellung. Als sei er eine Festung, sitzen sie im Klausner und versorgen die letzten Gäste. Die Insel wird so auch zum Abbild der DDR - die Robinsonade zu einem verstörenden Wenderoman.

Ein mythisch anmutendes Buch, das den Leser betroffen zurücklässt. Mehr als 5600 Fluchtversuche übers Meer verzeichnet die Statistik. 913 davon erfolgreich, 4522 Festnahmen. mindestens 174 Todesopfer seit 1961, angeschwemmt zwischen Fehmarn, Rügen und Dänemark.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort