Kunst im Alltag Was wirklich an den Wänden in deutschen Haushalten hängt

Düsseldorf · Jenseits aller ästhetischen Debatten: Mit welcher Kunst umgeben sich die Deutschen wirklich? Wenn Wohnungen aufgelöst werden, ist das zu besichtigen. Ein Besuch in einer Verkaufshalle für Kunst aus zweiter Hand.

 "Ist das Kunst oder kann das weg?" Blick in die Verkaufsausstellung des "Volksverein Mönchengladbach".

"Ist das Kunst oder kann das weg?" Blick in die Verkaufsausstellung des "Volksverein Mönchengladbach".

Foto: Krebs

Es sind Fundstücke. Herausgespült aus deutschen Wohnzimmern, Schlafzimmern, Essstuben. Abgenommen von der Wand über dem Sofa, herausgenommen aus der Nische mit dem antiken Sekretär, weggegriffen von der Stelle über dem Esstisch, auf die ab Mittag immer die Sonne scheint. Diese Kunstwerke stammen aus Privatwohnungen, in denen sie ihren Ort hatten, ihre Geschichte, ihren Sinn - und ihrem Besitzer ein Gefühl von Heimat boten, ein optisches Zuhause.

Wer wissen will, mit welcher Kunst sich die Leute tatsächlich umgeben, egal, was in Museen gesammelt, in Galerien gehandelt, in Kunstzeitschriften rezensiert wird. Wer wissen will, womit sie ihre Wände schmücken, ihr Heim dekorieren, ihre Fantasie beflügeln, der kann in einen dieser Läden gehen, in denen Bilder aus Wohnungsauflösungen verkauft werden.

Im "Volksverein Mönchengladbach" zum Beispiel, einem Sozialunternehmen gegen Arbeitslosigkeit, ziert der real existierende Kunstgeschmack der Deutschen mehrere Wände: Das selbst nachgemalte, nächtliche Straßencafé von Vincent van Gogh steht da neben der glänzenden Großfotografie einer Seelandschaft mit Wasserfall, Dürers "Mann mit dem Goldhelm" handgestickt neben einer lesenden Frau am Butzenscheiben-Fenster. Es gibt Blumenbilder in frohen Farben, mediterrane Szenen in Terrakotta-Tönen, Elefantensilhouetten vor untergehender Safari-Sonne und das Porträt eines jungen Mädchens mit Schoßhund in Öl.

Kann man den Bildern ihre Herkunft ansehen?

So still nebeneinander gestellt, meint man jedem Bild seine Herkunft anzusehen; kann sich das Zimmer ausmalen, in dem es von der Wand genommen wurde. Was ja schon mal bedeutet, dass diese Bilder jenseits aller Kriterien des guten Geschmacks eine eigene Wahrhaftigkeit besitzen. Eine rührende Solidität. Sie scheinen nicht mehr, als sie sind.

Natürlich kann man dieses Sammelsurium gerade deswegen auch als Kitsch abtun. Als Möbelhaus-Wartezimmer-Selbstverwirklichungs-Schrott vergangener Jahrzehnte, der irgendwie den Weg in private Räume gefunden hat und nun wieder hinauskatapultiert wurde - zum Weiterverkauf in eine neue Umgebung.

Denn die meisten Bilder sind nicht innovativ, anregend, irritierend, ihre Betrachtung verspricht keinen Erkenntnisgewinn. Wenn Kitsch also tatsächlich jene Kunst ist, die nur Erfahrung aus zweiter Hand liefert, schablonenhafte Empfindungen, wohlige Gefühle, Einverstandensein, Schwulst, dann ist das meiste an diesen Wänden dem wohl zuzuordnen. Diesen Bildern wohnt kein Zweifel inne. Sie werfen keine Fragen auf, sie sind selbstgenügsam, angepasst, epigonal.

Kitsch ist auch ein Kampfbegriff

Aber natürlich ist Kitsch auch ein Kampfbegriff. Eine Formel zur Abgrenzung. Die trügerische Behauptung von Gewissheit. Inzwischen weiß schließlich jeder, dass ein Hundertwasser-Druck peinlich ist und weinende Harlekine auf dem Geschmacks-Index stehen. Das Reden über Kunst folgt strengen Normen, weil darin so viel Selbstauskunft lauert, und weil der Kunstgeschmack eines Menschen alles über dessen Rang und Status in der Gesellschaft verrät.

Kitsch ist also das Andere, von dem es sich abzugrenzen gilt. "Kitsch ist sowohl ein Feindbild kühler Intellektueller, die darin eine sentimentale Volksverdummung sehen, als auch der echten Romantiker, die in ihm einen Verrat, einen Ausverkauf der romantischen Idee erblicken", sagt Christian Saehrendt, Autor des Buchs "Gefühlige Zeiten - Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten". "Beide sehen Kitsch als abgenutzte Formensprache, als seriell und industriell produzierte Nachempfindung, vor allem aber als effektheischerischer und kommerziell motivierter Appell an die Gefühle der Betrachter."

Die Grenzen sind fließend

Dabei sind die Grenzen doch fließend. Auch die glänzenden Tulpenköpfe eines Jeff Koons oder den mit Brillanten besetzte Platin-Totenkopf eines Damien Hirst kann man durchaus als Kitsch bezeichnen. Auch wenn die Kunstkritik von "kapitalistischem Barock" spricht und die Skulpturen als Meisterwerke der Ironie feiert.

Was Kitsch ist und was Kunst, diese Frage ist brisant, seit im 18. Jahrhundert Schönheit zum Gegenstand philosophischer Betrachtungen wurde, und seit eine bürgerliche Gesellschaft anfing, Galerien zu eröffnen und Kunstsammlungen zu bestücken. Denn seither muss entschieden werden, was hinein gehört und was nicht.

Natürlich ist das keine Frage, die noch mit den Kategorien "gut" und "schlecht" zu beantworten wäre, sondern längst eine des Preises. Wenn für einen Koons oder Hirst am Kunstmark höchste Summen gezahlt werden, dann gelangen sie auch ins Museum. Und die bunten Zwiebeln eines Hundertwasser bleiben Postkartenmotive.

Auch darum hat der unverstellte Blick auf die Praxis, auf das, was die Menschen tatsächlich an ihre Wände hängen, etwas Erfrischendes. Stellt die zufällige Sammlung in einem Secondhand-Möbellager doch unzensiert zur Schau, was Menschen tatsächlich anschauen, womit sie ihre Welt bebildern - ohne Kunstmarkt und ästhetische Diskurse im Nacken.

Viele Bilder sind selbstgemalt

Dabei fällt auf, wie viele der Bilder selbstgemalt sind. Zwar ist die Ausführung dilettantisch und die meisten Hobbykünstler wählen Motive, die es schon gibt. Doch der Wille zur Gestaltung zeigt, dass viele Menschen sich in der Kunst daheim selbst wiederfinden und auch dokumentieren möchten, dass sie sich um die Verschönerung der eigenen Lebenswelt bemühen.

Noch deutlicher wird das Bedürfnis, selbst vorzukommen, in den Porträts. Einmal selbst Modell sitzen, Gegenstand von Kunst werden, das bedient die Eitelkeit, überhöht die eigene durchschnittliche Existenz. In anderen Fällen mag der Wunsch ausschlaggebend gewesen sein, etwas Bleibendes von den Angehörigen zu besitzen. Denn die Kunst daheim ist auch das: Lebensbegleiter, Erinnerungswerk, ein Stück Biografie.

Auch darum können die Fundstücke in einer Ausstellungshalle wie des "Volksvereins" berühren. Wer dort ein Bild kauft, kauft dessen Geschichte mit, mag sie auch unbekannt bleiben. Das Bild aus einem fremden Haushalt bleibt etwas Privates, fast Intimes.

Kopien klassischer Werke sind oft vertreten

Bemerkenswert auch, dass die Leute sich gern mit Kopien klassischer Werke umgeben, mit Dürer, Rembrandt, van Gogh, Klimt. Das kann an der Güte dieser Gemälde liegen, die etwas Wesentliches zeigen, das zu allen Zeiten spricht. Es kann auch dem Bedürfnis entspringen, sich mit etwas zu umgeben, dessen Qualität verbürgt ist. Oder das einen als Bildungsbürger auszeichnet, so wie die Thomas-Mann-Gesamtausgabe im Bücherregal.

Und dann ist da noch die Lust an der Exotik, das Motiv gewordene Fernweh. Viele Bilder aus zweiter Hand zeigen paradiesische Tiere, ferne Landschaften oder romantische Winkel in Sehnsuchtsländern wie Italien oder Griechenland. Das Bild an der Wand wird so zum Fenster zur Welt, wie es einst die Maler des Biedermeier in ihren Bildern aufstießen. Der Mensch schaut hinaus, blickt in die Ferne, die er selten oder nie erreicht und weitet seinen Horizont.

Wahre Kunst verdankt die Maßstäbe für ihr Gelingen allein den eigenen Ansprüchen, hat der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann gesagt. Das ist eine Idealvorstellung von Kunst, die sich keinen Märkten, Ideologien, Geschmacksdiktaten unterordnet, sondern sich allein der Freiheit des menschlichen Geistes verpflichtet - und dadurch in sich radikal ist.

Ein nachgepinselter van Gogh aus den Verkaufshallen eines Vereins gegen Arbeitslosigkeit genügt diesem Anspruch nicht. Doch auch ein solches Bild widersetzt sich den Gesetzen des Marktes und des guten Geschmacks, denn es muss entdeckt werden von einem neuen Besitzer, dem es unabhängig vom Preis und dem Gerede der anderen etwas bedeutet. Der etwas darin sieht.

Vielleicht ist Kunst am Ende eine Frage des unschuldigen Blicks.

(dok)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort