An Kissingers Realpolitik scheiden sich die Geister

Das Buch Fergusons wird den Streit um den US-Politiker nicht entschärfen.

Henry Kissinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon, ist umstritten wegen seiner Beteiligung an der Ausweitung des Vietnamkrieges sowie am Militärputsch in Chile. Geschätzt wird der Friedensnobelpreisträger nicht zuletzt wegen seiner Entspannungspolitik mit der Sowjetunion. Weniger bekannt ist seine Ablehnung durch die frühen Neokonservativen, die ihm den Verlust des Vietnamkriegs vorwarfen und eine konservative Reaktion gegen ihn auslösten.

Linke wie Rechte haben den späteren Außenminister kritisiert, und das ist teilweise noch heute so. Davon handelt auch eine Neuerscheinung von Niall Ferguson, Professor in Harvard, Kissingers Alma Mater. Ferguson legte kürzlich den ersten Teil seiner zweibändigen Biografie vor, der mit Kissingers Amtsantritt 1968 endet und den kategorischen Untertitel "Der Idealist" trägt.

Ob Kissinger Idealist oder Realist war, wird von vielen Autoren unterschiedlich beantwortet. Ferguson nennt einen zentralen Punkt: dessen herzliche Verachtung bürokratischer Politik, die den Hochschullehrer wie den Amtsträger kennzeichnet. Kissinger selbst hat in seinen Memoiren dazu Stellung genommen: "In einer komplexen Bürokratie besteht die Neigung, die technische Komplexität zu übertreiben und den Umfang oder die Bedeutung politischer Lagebeurteilungen zu verringern. Sie begünstigt den Status quo, weil der immer den Vorteil hat, dass man mit ihm vertraut ist." Dies führe dazu, "eine bestimmte politische Linie vorzuziehen, nicht aber Alternativvorschläge vorzulegen". Genau die war das Problem des Vietnamkrieges, den er beim Amtsantritt geerbt hatte.

Kissingers eigenes Handeln im Amt war davon nicht angekränkelt, polarisiert in den USA allerdings bis heute. Im Gegensatz zu vielen seiner Kritiker verweist Ferguson zu Recht darauf, dass Kissinger zumindest im Umgang mit der Sowjetunion den moralischen Faktor nie außer Acht gelassen hat. Sein Buch leidet allerdings unter den langen Kapiteln über die Jugendjahre. Kissinger selbst lässt seine ebenfalls zweibändigen Memoiren überhaupt erst 1968 beginnen und erspart dem Leser damit so einiges.

Breiten Raum nehmen bei Ferguson naturgemäß die sicherheitspolitischen, historischen und geschichtsphilosophischen Schriften Kissingers ein, denn durch die wurde er bekannt. Geschildert werden auch seine ersten Ansätze einer Zusammenarbeit mit den früheren Regierungen Johnson und Kennedy. Für deutsche Leser dürfte das Kapitel "Der Anti-Bismarck" interessant sein, weniger wegen seiner historischen Reminiszenzen als wegen der Einschätzung bundesdeutscher Politiker der 60er und 70er Jahre durch Kissinger im Hinblick auf Atomwaffensperrvertrag und Entspannungspolitik: "Egon Bahr vertrat im Wesentlichen einen ähnlich pessimistischen Standpunkt zum Atomwaffensperrvertrag wie Strauß und Adenauer, Helmut Schmidt vertrat die gleiche Linie." Ganz zu schweigen von Kissingers Furcht vor einem "linken Nationalismus" im Zeichen der Entspannungspolitik.

Fergusons Werk zeigt: Das "ultimative Buch" über Henry Kissinger fehlt noch, auch weil alte und noch aktuelle Emotionen im Wege stehen, bedingt nicht zuletzt durch Kissingers robuste Amtsführung. Dafür kann dieser erste Band allerdings noch keinen Aufschluss bieten, doch dürfte Fergusons anstehender zweiter Band über Kissingers Amtszeit hier weiterführen. Zuzutrauen ist es ihm allemal.

(RP)
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