Düsseldorf Anselm Kiefers Arbeit am Gedächtnis

Düsseldorf · Seine Themen sind Erinnerung, Geschichte und Mythologie. Dazu äußert er sich nicht nur in Kunstwerken.

Unter den Altmeistern der deutschen Gegenwartskunst ist Anselm Kiefer (67) der Philosoph. Immer geht es ihm in seinen Bildern und Skulpturen ums Ganze: um die menschliche Existenz, um Leben und Tod und das, was Generationen zu diesen Themen deutend erdacht haben.

In den Medien macht sich Kiefer seit Jahren rar. Sein Format ist nicht die Talkshow, sondern – darin gleicht er Jürgen Habermas – das gelegentliche Zeitungs- oder Zeitschrifteninterview und dann und wann auch einmal eine Rede wie diejenige, mit der er vor vier Jahren in der Frankfurter Paulskirche für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels dankte.

Anders als manch sonstiger großer Künstler belässt es Kiefer nicht bei Andeutungen, wenn er über seine Arbeit spricht. Gern hilft er seinen Gesprächspartnern beim Verständnis seiner Werke, erzählt von ihrer Entstehung, von den Gedanken, die ihnen zugrunde liegen, und antwortet sogar auf eine Frage, die mancher gar nicht mehr zu stellen wagt aus Angst, dass sie als banal gelten könnte: Was will der Künstler uns damit sagen? Und was Außenstehende kaum für möglich halten: Anselm Kiefer, der Maler düsterer Räume, durch welche die Namen idealistischer deutscher Geisteshelden wabern, kann sogar lachen.

"Arbeit am Gedächtnis", so hat der Kunsthistoriker Daniel Arasse bezeichnet, was Kiefer umtreibt. Anselm Kiefer erforscht das kulturelle Gedächtnis der Menschheit auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Das klingt pathetisch, entspricht aber den monumentalen Bildern und Objekten, die der Künstler dafür erfindet: Bücher mit Flügeln, aus Blei oder in Bleiregalen.

Dieses Stochern in der Vergangenheit könnte wie Weltflucht wirken. Erstaunlicherweise aber schöpft Kiefer gerade mit seinem Rückgriff auf Geschichte und Mythologie neue Kraft zur Bewältigung der Gegenwart. Ein Beispiel ist das Gemälde, das in jüngerer Zeit besonderes Aufsehen erregte: "Der fruchtbare Halbmond" von 2010. Schon 1989 hatte Kiefer in "Zweistromland" rund 200 Bände, deren Seiten aus Blei bestehen, in eine Art Doppelbibliothek eingestellt. In beiden Arbeiten bezieht sich Kiefer auf das zwischen Euphrat und Tigris gelegene Mesopotamien, die Wiege der westlichen und orientalischen Kultur. Von dort stammt unter anderem das Gilgamesch-Epos, das älteste erhaltene literarische Dokument der Menschheit.

"Der fruchtbare Halbmond", ein Gemälde, das einen einstürzenden Turm zeigt, will dem Betrachter einen neuen Zugang zu einer der bekanntesten Geschichten des Alten Testaments eröffnen: dem Turmbau zu Babel. Mit dessen Einsturz strafte der Überlieferung zufolge Gott die Menschen, weil sie ihm ähnlich werden wollten. In Kiefers Darstellung geht es nicht um ein Scheitern, sondern darum, aus dem zerfallenden Bau etwas Neues zu gewinnen – das ewige Thema von Vergehen und Werden. Thomas Ebers äußert dazu im Katalog zur zurückliegenden Kiefer-Schau der Bonner Bundeskunsthalle: "Die auf den Betrachter zu fallenden Quadersteine des zerbrochenen Babelturms erinnern eben nicht nur an die Niederlage, sondern an die Vielfalt des Zusammengesetzten." Und diese Vielfalt setzt sich heute im Westen wie im Vorderen Orient fort. Auch Kiefer selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er in die Historie greift, um die Gegenwart zu erhellen. Manchmal zieht er dabei Geschichten hervor, die kaum jemand kennt. Zum Beispiel diejenige von Lilith, einer Göttin der sumerischen Mythologie in eben jenem Zweistromland. In einem Gemälde von Kiefer ist "Lilith" eine Darstellung Sao Paolos, das hier als staubige, aschfahle Ansammlung von Wohntürmen erscheint. Ist diese Zerstörung das Werk der dunkelhaarigen Lilith? Im Bild jedenfalls fährt sie mit Raketen auf den Moloch Sao Paulo nieder. Dieter Ronte, der frühere Direktor des Bonner Kunstmuseums, nannte Kiefers "Lilith" das "großartigste Bild zu ,Ground Zero'".

Noch so ein Beispiel für Kiefers Entdeckerlust, wenn es darum geht, aus einem entlegenen Teil der Vergangenheit Kapital für die Gegenwart zu schlagen: In seiner Kunst griff er auch auf Welimir Chlebnikow (1885–1922) zurück, einen russischen Dichter, der behauptete, alle 123 Jahre oder nach einem Vielfachen dieser Zahl ereigne sich eine wichtige Schlacht. Kiefer äußerte dazu: "Man kann alles so drehen, dass es in das System passt. Das ist ein Versuch, die Welt zu erklären." Und Kiefer steht bei solchen Versuchen, auch wenn sie mal ans Absurde grenzen, gern zur Seite. Denn wie sagte er doch in seiner Frankfurter Dankesrede: "Die Wissenschaften können nicht die mythischen Bilder und ihre Kraft ersetzen. Der Fortschrittsglaube der Wissenschaften ist vielleicht selbst ein Mythos; wissenschaftliche Ergebnisse sind zumeist vorläufig." Kunst dagegen könne etwas vorwegnehmend gestalten.

Kiefer glaubt, dass die Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben, in einem ewigen Kreislauf wiederkehren. Dem Künstler bleibt nur übrig, dieser Sinnlosigkeit immer wieder neue Gestaltungen abzugewinnen, ihr damit etwas entgegenzusetzen.

Gott scheint fern zu sein in dieser Welt des Anselm Kiefer.

(RP)
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