Baden-Baden Bach zwischen Gebet und Showdown

Baden-Baden · Simon Rattle dirigiert, Peter Sellars inszeniert J. S. Bachs "Johannespassion" bei den Osterfestspielen in Baden-Baden.

Zwischen den beiden Passionsvertonungen von Johann Sebastian Bach liegen bekanntlich Welten, manchmal aber nur wenige Meter. Die "Matthäuspassion" ist für zwei Orchester und zwei Chöre komponiert, sie stellt den Altarraum einer Kirche voll, sie betrachtet das Leiden aus verschiedenen Perspektiven, sie meditiert gleichsam über eine Geschichte - und wenn die beiden Chöre wie aus dem Mönchsgestühl miteinander korrespondieren, fühlt man sich an Wagners "Parsifal"-Zitat erinnert: "Zum Raum wird hier die Zeit." Die "Johannespassion" ist dagegen ein Thriller, in dem Raum und Zeit gestaucht scheinen; der dramatische Mittelteil hat die Energie eines Showdowns.

An diese Gedrängtheit in Kommunikation, Handlung und Atmosphäre fühlt sich der Zuhörer jetzt im Festspielhaus Baden-Baden erinnert, wo großartige Solisten, der Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle diese "Johannespassion" zur Inszenierung von Peter Sellars aufführen. Der US-amerikanische Regisseur hat das Musiktheater bislang in seiner gigantischen Vielfalt durchschritten und dabei immer ein weites Herz für religiös angehauchte Werke gehabt. Auch die "Matthäuspassion" hat er schon "ritualisiert", wie er eine Regieform nennt, die den Chor choreografisch ins Bild bringt - als wogendes Ährenfeld, als erstarrte Geschworene, als mitleidige Gemeinde.

Sellars als immer noch genialischer Catweazle der Branche hat auch für die "Johannespassion" wunderbare Ideen, um jeden Gedanken an einen rein konzertanten Block aufzulösen: wie er den Evangelisten zum empathischen Wanderer durch die Passionslandschaft weitet, der am Geschick des Gottessohns fast jüngerhaft teilnimmt. Wie er den Pilatus als zerrissenen Zauderer darstellt, der zwei Herzen in seiner Brust hat. Wie er die Frauen jenseits allen Jammerns zu höchstem Ausdruck anhält.

Trotzdem wirkt die Regie unfreiwillig matt, denn Sellars inszeniert den Thriller - wie er selbst sagt - als "Gebet". Wenn er aber die Sphäre der Anrufung betritt, merkt er nicht, dass er damit den Spielbezirk der theatralischen Intelligenz verlässt - und hinüber zum Sakralkitsch wechselt. Wenn im Eingangschor von "Niedrigkeit" die Rede ist, kriecht der Chor schier über die Bühne; dann bäumt er sich, wenn der "Herrscher" beschworen wird, mit allen Händen gen Himmel; bald klaubt er die "Körnlein" mit Pinzettenfingern vom Boden. Und wenn der Chor sein arrogant-tödliches "Hinweg" spuckt, müssen die Berliner Rundfunksänger mit den Händen zucken, als befänden sich lästige Fliegen auf der Bühne.

Mit der Zeit wird Sellars' Arbeit durchschaubar, weil sie den Text durch reichlich konventionelle Passionsspiel-Mimik fortwährend doubelt. Die schwarze Einheitstracht trägt nicht zur Ablenkung bei. Und leider sinkt der Chor so oft zu Boden, dass man eher kollektive Blutdruckprobleme als Anfälle von Ergriffenheit befürchtet. Wenn die Sänger wieder alle Hände hochreißen, denkt man an Opfer eines Banküberfalls und einschlägige Verbrecherkommandos. Hände runter!, möchte man den Erregten zurufen.

Trotzdem ist es nicht vertane Zeit in Baden-Baden, denn wir erleben den momentan wohl bedeutendsten Sänger deutscher Sprache: Christian Gerhaher. Er singt den Pilatus, den Petrus und alle Bass-Arien mit einer Eindringlichkeit, einer Kultur der Deklamation und einer sängerische Delikatesse, dass es über das Niveau seines Lehrers Dietrich Fischer-Dieskau weit hinausgeht. Mark Padmore ist ein überwältigender Evangelist, der seinen Text nicht verwaltet, sondern in feuriger Mitwisserschaft gliedert - hier durch Zurückhaltung, dort durch brennende Intensität.

In ihren Sopran-Arien kommt Camilla Tilling dem Himmel, von dem ihre Stimme geschickt scheint, in jedem Takt wieder ein bisschen näher. Roderick Williams als Christus hat sich in Würde schon mit dem ersten Takt aufgegeben; eine eigenwillige, aber nicht unplausible Lesart. Dagegen wirkt Topi Lehtipuu in den Tenor-Arien sehr angestrengt; auch Magdalena Koená (Alt) erreicht diesmal nicht die gewohnte Leuchtkraft.

Der Rundfunkchor Berlin ist sicher keine handverlesene Spezialtruppe, die für ihren Bach auch nachts um 4.30 Uhr geweckt werden und aus dem Stand pfeilschnelle Koloraturen abschießen könnte. Es mangelt zuweilen ein wenig an Gelenkigkeit. Aber das Piano der Choräle ist atemberaubend. Und die Berliner Philharmoniker haben sich ihren Johann Sebastian längst noch nicht abgewöhnt, wie etliche Bravourleistungen bei Flöten, Oboen, Gamben beweisen.

Rattle ist bislang als Bach-Interpret nicht sonderlich hervorgetreten, weswegen er sich mit auffälligen Deutungsversuchen geschickt zurückhält. Das gewährt eine "Johannespassion" von lebhafter, aufführungspraktisch sorgfältiger und überhaupt sympathischer Direktheit. Der schönste Moment ereignet sich in der Bassarie "Eilt, ihr angefocht'nen Seelen", wenn Rattle die "Wohin"-Einwürfe auf fünf Chorgruppen in fünf Winkeln aufteilt und die letzte Gruppe so beklommen, bangend und zagend nach dem Fluchtpunkt der Mission Jesu fragen lässt, dass die Antwort des Baritons Gerhahers mit unausweichlicher Konsequenz und Unabweisbarkeit folgt: "nach Golgatha!"

In diesem Moment ist Bachs finstere psychologische Größe auf der Bühne körperlich spürbar. Ansonsten trifft sie leider nur ein, wenn man zuhört und die Augen schließt.

(RP)
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