Barfuß durch den Dschungel

Der vierte Teil unserer Sommerserie "Große Freiheit Nr. 1" erzählt von der Sehnsucht nach fremden Ländern und Menschen, nach Grenzerfahrung. Dieses Gefühl brachte unsere Redakteurin mit 24 Jahren nach Sri Lanka.

Freiheit war ein großes Wort in den 1970er Jahren. Das meinte, sich einmal außerhalb jeder Konvention zu bewegen, vieles neu zu denken und zu fühlen. Sehnsucht nach Grenzerfahrung und Grenzenlosigkeit. Nach fremden Ländern und Menschen. Sich in bunten Klamotten wie ein Hippie vorzukommen, an einem entlegenen Winkel der Welt Situationen zu stellen, die im Leben das Kategorische, das Graukarierte, das Vernünftige wegdrängen und das erlernte Bewusstsein erweitern würden.

1979 brach ich auf zu einer Reise, die bis heute das Versprechen von großer Freiheit einhalten sollte. Mit meinem damaligen Freund Ulli hatte ich mich für eine Expedition nach Sri Lanka entschieden. Östlich der indischen Südspitze ist die Insel gelegen, flächenmäßig nicht einmal so groß wie Bayern. Würde uns das ehemalige Ceylon ein weit- und zeitgedehntes Leben offenbaren, das ich in allen Einzelheiten niemals für möglich gehalten hatte?

So fremd wie die Menschen von Sri Lanka uns vorkamen, so kamen auch wir ihnen vor. Sie waren viel schmaler als wir wohlstandsverwöhnten Westeuropäer, und sie hatten eine oliv-golden getönte samtige Haut. Wenn wir uns in den vollgepackten Bussen aneinander drängten, dann staunten wir uns gegenseitig an. Immer lächelten sie, die Singhalesen und Tamilen. Das machte uns unsicher. Ob sie uns vielleicht auslachten?

Ich trug mit 24 hennaglänzendes Haar und selbstgefärbte Kleider aus Spitze mit Satinbändern - orange, pink, braun. Mein Freund fiel mehr auf wegen einer Latzhose, die zu seinen Lieblingskleidungsstücken gehörte und seinen rundlichen Bauch verbarg. Bäuche gab es nicht bei Männern. Noch ungewöhnlicher war sein schulterlanges Haar. Und dass er neben dem großen Seesack stets eine Gitarre bei sich führte.

Nach wenigen Tagen erfuhren wir, dass das Lachen eine Art Kommunikationsaufnahme der freundlichen Menschen war, und dass sie Ulli für einen Menschen hielten, der unterwegs war, ein Gelübde zu erfüllen. Nur in solchen Fällen - das glaubte man in Sri Lanka - ließen Männer ihr Haar wachsen bis zur "Erlösung". Als wir einmal gemeinsam auf der Straße Musik machten, warf man uns ein paar Rupien vor die Füße. Was gar nicht in unserem Sinne war. Ich hatte vor wenigen Monaten mein Diplom an der Musikhochschule abgelegt und spielte aus purer Freude mit meinem Freund, der Rockmusiker war. In Sri Lanka hatte man so ein Pärchen noch nicht gesehen.

Alles, was unsere Augen und Sinne erregte in jenen drei Wochen rund um Weihnachten, hatten wir auch noch nie gesehen, vieles nicht für möglich gehalten. Das begann mit der Ankunft nach dem Überwinden von 8272,38 Kilometer Luftlinie. Die Flugzeugtür öffnete sich in der Glut des Mittags. Ein Gefühl, wie in die Badewanne zu gleiten, umgab uns, so warm und feucht war es. Wir mussten einen Schirm kaufen, um Kopf und Kreislauf zu schützen. Die anschließende Fahrt zum Hotel war ein Schauspiel. Entlang einer Touristenroute stürmten bei jedem Halt Kinder an die Busse. Sie bettelten, weil sie es anders nicht gelernt hatten. Sie fragten nach Kulis. Das war die Touri-Währung. Aber sie lachten dabei. Dann verschluckte sie die sandige Piste wieder, bis die nächsten Bettelkinder auftauchten.

Negombo hieß der Ort, von dem aus wir Sri Lanka, die strahlend schöne Insel, im Westen und Norden erkunden wollten. In "Negerbombo" tauften wir ihn um, ganz ohne rassistischen Unterton. Wir meinten das liebevoll mit Blick auf die für uns dunklen Menschen, die lehmfarbene Landstraße, die Nächte ohne elektrisches Licht. Die Touristen, die hier in klimatisierten Fünf-Sterne-Hotels abstiegen, passten für uns nicht in diese Welt. Sie nervten uns. Wir wollten uns absetzen vom Establishment. Wir zogen mit kleinem Geld los. In touristenfernen Ecken fühlten wir uns reich. Wir schliefen in Hotels mit Fensteröffnungen ohne Scheiben. Palmen kratzten am Dach. Wir lernten bei Nacht die längsten Ameisen unseres Lebens auf ihrer Route vorbei an unseren Schlafsäcken kennen. Dank der vor Ort gekauften Räucherstäbchenspiralen blieben wenigstens die Mücken auf Abstand.

Eine unerwartete Grenzerfahrung war der Mangel an fließendem und sauberem Wasser. Spiegel gab es auch nicht überall. So konnte ich damals keine Kontaktlinsen tragen, musste mich mit dicken Brillengläsern präsentieren. Wer frei sein will, darf nicht eitel sein. An die Hygiene auf Toiletten möchte man sich nie mehr erinnern. Das Haar habe ich mir einmal im Indischen Ozean gewaschen, am Strand saß ein kleines Mädchen, das mir zuschaute. Es verrichtete gerade sein großes Geschäft, dabei aß es eine Banane.

Das Essen war grandios, nach Thailand hat Sri Lanka die schärfste Küche der Welt. Wir lernten, mit den Fingern zu essen, die in Curry- und Chili getränkten Stücke Fisch in Blätter einzuwickeln, bevor man sie zum Mund nimmt. Oft tränten uns die Augen. Das beste Essen? In einer kleinen Bar am Meer pries ein Fischer seine Ware an, mit einer lebenden Krabbe an der Leinen schickte er sein Töchterchen an den Tischen vorbei. Natürlich brachten wir es nicht übers Herz, dieses Tier zu bestellen.

Wir reisten in Bussen und mit der Bahn zu den Orten der Sehnsucht, in die alte Königsstadt Kandy oder nach Sigiriya, wo der Löwenfelsen mit seinen 1500 Jahre alten Wandmalereien von Wolkenmädchen uns alles abverlangte. 1200 Stufen muss man in der Hitze hoch, um am Ende eine Landschaft zu sehen, die unvergleichlich ist. Es war die Hauptstadt des alten Königreichs, in der man den vermutlich ältesten Baum der Erde auch zu sehen bekam.

Vorbei ging es an den grün schimmernden Terrassen des Reisanbaus und an blühenden Teeplantagen, immer begegnete man Elefanten, die sich anders, nämlich freier als im Zoo oder Zirkus verhielten. Sie wurden in Flussbetten mit Wasser abgespritzt und kräftig geschrubbt. Sie trompeteten ihre Freude darüber aus. Mensch und Elefant sind Freunde. Es gibt sogar ein Heim für Dickhäuter, das Rentner und Waisen aufnimmt.

Die gewohnte Dosis Filterkaffee nicht zum Frühstück zu haben, war für mich höchst ungewohnt. Und gewöhnungsbedürftig. Tee gab es stattdessen überall, auch zu kaufen. Wir hörten auf einen Händler, der sich von uns 50 Mark geben ließ und die Ware nach Deutschland per Schiff schicken wollte. Wir zahlten, weil der Tee in Sri Lanka so wundervoll schmeckte. Die Ware kam nie an. Zimt, Curryblätter, Sternanis und Curcuma führten wir lieber selbst im Seesack nach Europa ein. Noch Monate später kochten wir Currys zu Hause.

Die Bilder aus Sri Lanka sind in fast 40 Jahren kaum verblichen, die Begegnungen mit den fröhlichen Menschen, von denen wir fälschlicherweise als erstes glauben, feststellen zu müssen, dass sie arm sind. Ihr Reichtum ist ein anderer. Auch ist die Erinnerung noch wach an die Schönheit der unverbauten Natur und den betörenden Duft mancher Pflanzen und Blüten. Mein Freund lief barfuß durch das Dickicht des Dschungels. Ich weiß nicht, warum er das tat. Inzwischen trug er wie alle Männer in Sri Lanka einen Sarong, ein um die Hüften gewickeltes Tuch, statt seiner Latzhose. Auch ich hatte mir einen Sari gekauft. Wir führten ein Leben ohne Regeln in einem Land, das auf den ersten Blick wenig Regeln vermittelte.

Die große Freiheit jenes Urlaubs hätte uns fast das Leben gekostet. Unterwegs zu einem Dorffest im Landesinneren, das religiöse Tänze bei Nacht versprach, wurde unser Fahrer von Männern gestoppt. Wir mussten aussteigen, die Hände hochnehmen. Vielleicht vermutete man Drogen bei uns. Alles wurde durchsucht. Zwei Männer hielten Gewehrläufe auf unsere Brust. Sollte das unsere letzte Stunde werden? Irgendwann durften wir weiterfahren. Das war die Grenzerfahrung, die wir uns lieber erspart hätten.

(RP)
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