London Beethoven bei den Briten - die "Proms"

London · Im Sommer finden in der Royal Albert Hall die legendären Promenadenkonzerte statt. Die "Last Night" ist live im Fernsehen zu sehen.

Ahnungslosigkeit kann so folgenreich sein. Um 20 Uhr bist du von der Bayswater Road im Norden in den grünen Hyde Park spaziert, hast noch einmal die Ruhe und Einkehr mitten im Moloch London genossen, weil um 22.15 Uhr gleich im Süden des Parks J. S. Bach deine maximale Aufmerksamkeit beanspruchen wird. Du umkurvst Teiche, sitzt auf Bänken, staunst über den Flugverkehr am Himmel, und wenn du um 21.30 Uhr den Park an der Kensington Road verlassen willst, sind alle Tore geschlossen, und spitze Zinken an Zäunen halten Wacht. Jetzt musst du klettern und nicht nur um dein Beinkleid fürchten.

Du bist nicht der einzige Ahnungslose, es kommen noch viele geklettert, denn alle wollen auf die andere Straßenseite in die Royal Albert Hall, wo die "Proms" rufen, eine der größten Konzertreihen der Welt. Wer im Musikleben der Klassik etwas gelten will, muss hier aufgetreten sein. Das Publikum unten im Saal und ringsum auf den Galerien sieht allerdings mitnichten so chic aus wie in Salzburg oder Bayreuth. Londons Musikhörer (nicht nur in der Royal Albert Hall) ähneln häufig Leuten, die über einen Zaun geklettert sind. Krawatten sind hier die Ausnahme, Hosen gern kurz, Shirts leger, Schuhe offen. Etikette besteht darin, dass sie abgeschafft ist. Das gilt eigentlich für alle englischen Konzertsäle, doch bei den "Proms" fällt es auf. Die Leute bringen auch ihr Bier mit in den Saal. Ist erlaubt.

Wenn du dann zu vorgerückter Stunde einer Messe, einem Brandenburgischen Konzert und dem "Magnificat" lauschst, wunderst du dich, wieso alles so leise ist. Weilen nicht 7000 Leute in diesem gigantischen Saal, in dem ansonsten Popstars auftreten oder Tennis-Schaukämpfe abgehalten werden? In London gilt Verschwiegenheit als Kerntugend musikalischer Demokratie. Keiner muckst. Während hierzulande zwischen den Sätzen einer erhabenen Beethoven-Sinfonie reichlich Rachenhygiene betrieben wird, hörst du in London bei Beethoven und Co. kaum einen Hauch. Es ist wirklich atemberaubend.

Spektakulär wirkt die Stille, weil viele im Saal stehen. Sie stehen im Parkett, als sei das hier ein Pop-Konzert, bei dem Boxen fehlen, und sie stehen auf den Galerien, und zwar so starr, als seien sie vor dem großen J. S. Bach zur Skulptur gefroren. Am nächsten Tag wird das nicht anders sein, nun sind es 9500 Leute, die das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons mit der Symphonie Nr. 6 a-Moll von Gustav Mahler hören wollen. Vor dir sitzt eine Kleinfamilie, Eltern mit zwei pubertierenden Töchtern, gleich geht, so denkst du, das Genöle los, aber nichts passiert, sie sitzen so ruhig, als sei das hier eine überwältigende grenzwertige Erfahrung, die man irgendwann im Leben machen muss.

Genau das! Die Akustik ist natürlich alles andere als betörend, sie schluckt Musik wie ein Wal, der Saal ist einfach zu groß, selbst für eine saftig besetzte Mahler-Symphonie mit Herdenglocken; du müsstest drei Orchester gleichzeitig spielen lassen, aber darum geht es nicht. Im Zentrum steht diese kollektive Hingabe, dieses Wir-Gefühl, das bei manchen zur Trance führt. Einige liegen unten in der Arena sogar auf dem Fußboden. Daneben steht, irritiert und verloren, ein Herr im schwarzen Anzug, seine Gattin trägt Abendkleid. Vermutlich ahnungslose Touristen, die nie über einen Zaun klettern würden, sondern mit einem Black Cab vorfahren.

Das alles ist natürlich im Sinne von Sir Henry Wood, dem ersten Dirigenten der seit 1895 bestehenden Promenadenkonzerte. Ihm ging die Öffnung des Programms Richtung Moderne und Richtung Volkstümlichkeit - eigentlich ein Widerspruch in sich - fast nicht schnell genug. Wood sorgte dafür, dass sogar Franzosen wie Claude Debussy in London ankamen. Wood zählte zu den Anwälten eines radikal demokratischen Publikumsideals, das später der BBC so gut gefiel, dass sie die Leitung übernahm. Für die BBC sind die "Proms" natürlich eine famose Legitimation: Eben weil hier jeder auch für kleines Geld eine Karte bekommen kann, handelt es sich um eine vorbildliche Form der Gleichheit. Es gibt überhaupt keine Zugangsschwellen. Es gibt nur die Zäune im Hyde Park. Wem übrigens der Verkehr zur Royal Albert Hall zu beschwerlich ist, der hört die Konzerte eben auf BBC 3.

Man sollte die "Proms" nicht mit ihrer berüchtigten "Last Night" verwechseln, die mehrfach ausverkauft sein könnte, so viele Leute drängen nach Karten. Hierbei handelt es sich um eine Veranstaltung, bei der die Londoner sich als Royalisten feiern, gute Laune, Fahnen und ihre Kehlen mitbringen. Es geht ausgelassen zu, und zwar vorsätzlich. Diese "Last Night" wird in die ganze Welt übertragen, in Deutschland besorgt das seit 34 Jahren der NDR mit seinem Adelsexperten Rolf Seelmann-Eggebert. Für ihn erklingt am 12. September 2015 die unwiderruflich letzte "Last Night". Die Queen sollte ihn zum Ritter schlagen.

Wie er fühlst auch du dich an diesen Abenden very british, für zwei Stunden weht der Union Jack in deinem Herzen, und wieder gibt es am Ende "Pomp and Circumstance" von Edward Elgar und "Rule, Britannia", diese patriotische Haudegen-Nummer, die sich die Briten allen Diskussionen zum Trotz nicht nehmen lassen. Und wenn 9500 Leute sie singen, dann sitzt und singst du mitten im Chor in diesem Konzert der Herzen und willst nie wieder hinaus.

(w.g.)
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