Berlin Berlinale taucht tief in die Wirklichkeit

Berlin · Die besten Wettbewerbsfilme erzählen mit Wucht aus der Gegenwart. Dagegen sieht das opulente Hollywoodkino alt aus.

Nun ist also eine Polarforscherin ins ewige Eis gereist, eine Wüstenkönigin ist hoch zu Kamel zu den Beduinen aufgebrochen war und eine gedemütigte Kammerzofe hat ihrer Herrschaft das Silber aus der Anrichte geräumt. Juliette Binoche, Nicole Kidman und Léa Seydoux waren die Stars dieser opulenten Werke, und doch: Spannend wurde es bei der Berlinale erst, als die Wirklichkeit einbrach mit aller Macht. In den besten Filmen des bisherigen Wettbewerbs geht es um Freiheit, Freundschaft und moderne Erschöpfung - um die Gegenwart, in der wir leben. Von drei Bärenkandidaten soll die Rede sein, von Sebastian Schippers "Victoria", Terrence Malicks "Knight of Cups" und Jafar Panahis "Taxi".

"Victoria" Victoria ist eine junge Spanierin, die in Berlin lebt, in Cafés jobbt, ihre Träume in der Heimat beerdigt hat. In einer Nacht lernt sie auf der Straße vier Jungs kennen, Drifter, Halbstarke, die schon wissen, dass sie in der Gesellschaft keine Chance haben. Aber sie haben einander, darauf ist Verlass. Freunde - das ist für sie Familie. Der deutsche Regisseur Sebastian Schipper hat schon einmal einen wahrhaftigen Kumpelfilm gedreht: "Absolute Giganten". Nun erzählt er von vier Jungs und einem Mädchen, die in einer Nacht in eine üble Geschichte geraten. Und weil Schipper findet, dass es dem Kino an Druck, Gefahr, Unbedingtheit mangelt, hat er sich für seine Produktion maximalen Nervenkitzel verordnet. Er hat "Victoria" in einem Zug gedreht, in Echtzeit, ohne Schnitt, ohne Korrekturmöglichkeit. Der überragende dänische Kameramann Sturla Grovlen verfolgt die Darsteller ohne abzusetzen durch die Ereignisse dieser Nacht. "Wie ein Kriegsreporter", sagt Schipper. Ja, es fühlt sich an wie Realität, was der Zuschauer da erlebt. Zwar ist die Geschichte etwas überjazzt und manche Nebenfigur kommt mit den extremen Drehbedingungen nicht so gut zurecht wie die grandiosen Hauptdarsteller. Dennoch: Dieser "One Shot" ist nicht nur ein sportives Experiment. Die Form dient dem Inhalt, lange hat man keinen so packenden Genrefilm aus Deutschland mehr gesehen. Und dazu eine Geschichte, die wie nebenher von sozialer Wirklichkeit erzählt, von Verhältnissen, gegen die keiner ankommt. Nicht mal ein echter Kumpel.

"Knight of Cups"

Natürlich kann ein Film auch von der Wirklichkeit handeln, ohne eine einzige realistische Szene zu bieten. Das ist die Kunst des Amerikaners Terrence Malick. Der hat in "Tree of Life" schon einmal gezeigt, wie man Bewusstseinsströme in suggestive Bilder verwandelt und aus Bruchstücken eine Geschichte zusammensetzt, so fließend wie ein Traum. In "Knight of Cups" erzählt er von einem Mann um die 40, der in Los Angeles lebt, Erfolg hat, Geld und schöne Frauen, doch in seinem Inneren fühlt er sich leer, müde von all den Partys, dem Szeneleben, dem Hedonismus. So taumelt er durch sein Leben, Erinnerungen tauchen auf an den Vater, die Brüder, die Frauen, die er verlassen hat. Eine davon ist Natalie Portman, die in Berlin von den Dreharbeiten mit dem scheuen Regisseur Terrence Malick erzählte. "Wir haben alles improvisiert, wussten nie, in welcher Geschichte wir eigentlich spielen, kannten nur unsere Charaktere", sagte Portman. Auch dieser Film ist also aus dem Zutrauen eines Regisseurs auf die Macht seiner Darsteller entstanden. Obwohl Malick abermals in Sequenzen erzählt wie im Traum, die inneren Stimmen seiner Darsteller mit einer assoziativen Bilderflut unterlegt, sind die einzelnen Szenen doch gesättigt mit Wirklichkeit, weil sie aus dem Erfahrungsschatz von Schauspielern gegriffen sind, die sich ganz dem Moment überlassen mussten. Und natürlich ist all das, genau wie bei Schipper, erst möglich, seit es die digitale Technik gibt: leichte, wendige Kameras, unbegrenztes Drehmaterial. Zwar hat Malicks Erzählweise auf Dauer etwas Ermüdendes, und seine symphonisch gesättigten Bilder, vor allem seine Darstellung von Frauen in flatternden Kleidchen, ertrinken im Klischee. Doch auf der Berlinale zeichnet sich ab, dass die Digitalisierung nicht nur dem Actionkino alle Tore öffnet, sondern auch im Drama eine neue Nähe zur Realität ermöglicht, ein Eintauchen in die Wirklichkeit, die nicht mehr im Studio säuberlich nachgebaut werden muss.

"Taxi"

Dazu lassen sich digitale Filme schmuggeln. Eingebacken in einen Kuchen zum Beispiel, wie der neue Film von Jafar Panahi. Der Iraner unterliegt in der Heimat einem Arbeitsverbot, darf das Land nicht verlassen. Gedreht hat er trotzdem - getarnt als Taxifahrer. Zwei digitale Kameras hat er im Binnenraum seines Wagens angebracht, durch die Scheibe ist iranischer Alltag zu sehen, die Geschichten steigen zu. Da diskutieren mal zwei Passagiere über die Todesstrafe, dann fährt ein DVD-Schmuggler mit, oder Panahis Nichte, die für die Schule selbst einen Kurzfilm drehen soll - die Zensurregeln stehen in ihrem Heft. Mit überraschender Leichtigkeit, großer Selbstironie und sehr viel Weisheit hat Panahi einen Film über seine beengte Wirklichkeit gedreht und zugleich ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst. "Taxi" in Berlin in den Wettbewerb zu nehmen, ist nicht nur ein politisches Zeichen. Eine Fahrt mit Panahi ist so lehrreich wie unterhaltsam.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort