Wim Wenders "Bilder haben mir früh die Welt bedeutet"

Düsseldorf · Wim Wenders hat in Essen den Rheinischen Kulturpreis erhalten. Dabei hielt der Regisseur selbst eine Laudatio - auf seine Heimat, das Rheinland. Wir dokumentieren seine Rede.

 Der 71 Jahre alte Regisseur und Fotograf Wim Wenders.

Der 71 Jahre alte Regisseur und Fotograf Wim Wenders.

Foto: dpa, mku tmk kde

Was macht einer, der einen Preis bekommen soll? Er freut sich. Und er geht in sich. "Warum bekomme ich diesen Preis? Habe ich ihn verdient, und wenn ja, womit oder wofür?" Aber vor allem fragt sich der Gepriesene: "Wem und welchen Umständen verdanke ich, dass ich der geworden bin, der hier ausgezeichnet wird?"

Die Wahrheit ist: Das weiß niemand besser als eben jener Mensch, der diesen Preis erhalten soll. Deswegen gibt es für den Ausgezeichneten auch keine größere Herausforderung, als der Laudatio auf sich selbst zuhören zu müssen. Wer auch immer das macht, sei der auch noch so lieb und klug, soll ja beweisen, dass der Preis zu Recht vergeben wird, kann also nur Verdienste aufzählen, ohne zu wissen, welche Zweifel oder Fragen den Belobten plagen. Außerdem: Der kennt das ja im Prinzip schon, was der Laudator sagen wird, und alle anderen Zuhörer oft genug ebenfalls, weil es das alles meist auch bei Wikipedia nachzulesen gibt.

Man wird ja der, der man ist, durch all das, was einem widerfährt, vor allem wenn man jung ist und noch völlig offen. Auch jeder noch so Berühmte hat klein angefangen und wurde geformt von Menschen, von Orten und von Umständen. Und um die geht es mir jetzt, in dieser Stunde der Wahrheit. Denen will ich Tribut zollen und danken, dass ich der werden durfte und konnte, der ich geworden bin. Wo ich diesen schönen "rheinischen Kulturpreis" erhalten soll will ich mich vor allem auf dieses "Rheinland" konzentrieren, diese heimatliche Kulturlandschaft, die wir als unser Bundesland "Nordrhein-Westfalen" kennen. Da passe ich per Definition gut rein: Mütterlicherseits komme ich nämlich vom Nordrhein, von der holländischen Grenze bei Emmerich, und väterlicherseits aus Westfalen, aus Münster, und das Ganze ist dann in Düsseldorf zusammengeflossen. Wo anfangen? Wenn nicht bei meiner Zeugung. Nicht, dass ich da je mit meinen Eltern drüber geredet hätte, und eigentlich geht das auch niemanden was an, aber mir ist das immer symptomatisch vorgekommen, wie es dazu kam, dass es mich gibt, und nur deswegen will ich hier damit beginnen. Ich weiß, dass es rein rechnerisch nur eine einzige Nacht gab, in der dieser Akt meiner Zeugung möglich war, nämlich der Heiligabend 1944. Mein Vater war an der Front, die zu dem Zeitpunkt durch die Eifel verlief, und als Stabsarzt und Chirurg war er Tag und Nacht damit beschäftigt, Verwundete zu versorgen und zusammenzuflicken. Seinen letzten Heimaturlaub hatte er Monate früher gehabt, und auch zu Weihnachten gab es keine Pause, es wurde praktisch rund um die Uhr operiert. Meine Mutter wollte das nicht akzeptieren, Weihnachten ohne ihren Mann, und hat sich gegen jedes bessere Wissen auf den Weg an die Front gemacht, auch wenn dahin kein Weg führte. Sie war zwei Tage lang unterwegs, erst mit dem Zug, dann hauptsächlich zu Fuß, und schließlich versteckt in einem Bauernwagen. Schließlich landete sie in eben jenem Hof, in dem mein Vater einquartiert war. Weil niemand an der Front auch nur im Entferntesten von der Anwesenheit meiner Mutter erfahren durfte, fand meine Zeugung nicht nur bei Nacht und Nebel statt, sondern auch im Heu in der Scheune des Bauern.

Sie werden verstehen: Weil das Heiligabend war, habe ich seitdem ein Faible für die Kuh und für den Esel, die ja in jeder Krippe dabei stehen. Gerade neulich habe ich zu dem Thema etwas gelernt: Kuh und Esel im Stall sind eine Erfindung des Heiligen Franziskus, der überhaupt auch für die erste Krippendarstellung zuständig war, und Kuh und Esel als Sinnbild für Juden und Muslime eingebaut hat. Diese Symbolik war wohl damals deutlich und vielen verständlich. Inzwischen hat sich das verflüchtigt, aber mir hat gefallen, dass er die anderen beiden Religionen, die sich auf den Urvater Abraham berufen, in diese Ur-Szene eingebunden hat.

Aber ich bin abgeschweift. Diese Weihnachtsnacht fand am äußersten südwestlichen Rand unseres nordrheinwestfälischen Heimatslandes statt, in der Eifel. Das nächste Kapitel passierte dann schon in der Landeshauptstadt, in den Krankenanstalten auf der Kaiserswerther Allee. Hier ist natürlich auch meine Mutter die Hauptfigur, aber eine wichtige Nebenrolle spielt meine Tante Mia, ihres Zeichens Apothekerin, in vielen Apotheken später, hauptsächlich im Düsseldorfer Raum, aber auch für eine wichtige Zeit meiner Kindheit im Steinkohlegebiet in Hückelhoven. Auch der bin ich aus vielen Gründen zu Dank verpflichtet. Zum Beispiel, weil sie meine hochschwangere Mutter im Krankenhaus besucht hat. Es herrschte Personalmangel, alle Ärzte und Schwestern waren beschäftigt, bei meiner Mutter setzen die Wehen ein, aber niemand kam ihr zu Hilfe. Tante Mia wusste auch nicht, was sie machen sollte, aber lief schließlich in schierer Verzweiflung einfach nur laut schreiend durch die Gänge, bis sie tatsächlich alle herbeigezetert hatte, die für die dann folgende Notoperation gebraucht wurden, während der Tante Mia in Ohnmacht fiel. So erblicke ich am 14. August 1945 das Licht der Welt. Keiner sehr freundlichen Welt. Gerade einmal acht beziehungsweise fünf Tage vorher sind die einzigen Atombomben abgeworfen worden, die in der Geschichte der Menschheit je gegen Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Meine Eltern hatten das Glück, ein Dach über dem Kopf zu haben. In dieser unmittelbaren Nachkriegszeit war das keine Selbstverständlichkeit. Sie wohnten in der Wohnung meines Großvaters, neben und über der Pfalzapotheke, die nach seinem Tod eben von Tante Mia weitergeführt wurde. Das Haus auf der Ecke Kleverstraße und Kaiserswerther Straße war zwar zum Teil zerstört, das Dach war ausgebrannt, aber die unteren Stockwerke standen noch.

Meine allerersten Erinnerungen an die Welt sind die Straßenbahnen, die scheppernd durch eine Schneise von Schuttbergen fuhren, die sich links und rechts der Kaiserswerther Straße auftürmten. Meine Geburtsstadt Düsseldorf war, wie viele andere Städte im Land, völlig zerstört und in Schutt und Asche gelegt worden. So war die Welt, dachte ich, musste ich denken. weil ich nichts anderes kannte. Es gab ja nur Zerstörung. Ein Nichts, dem die Menschen darin, aus Überlebenswillen, aber auch als Trotz, irgendetwas entgegensetzen wollten. Dazu hatte man nicht viel, außer den menschlichen Willen, eine Leidens- aber auch Liebesfähigkeit. Weil es nur die schiere Existenz gab, war so auch alles "existentieller", also wesentlicher, und die Grundlage dazu war jede Beziehung "von Mensch zu Mensch". Das war das Realste, das einzig Reale.

Eine andere Welt war nur an den Wänden dieser kleinen elterlichen Wohnung zu erahnen. Da hingen ein paar billige Kunstdrucke, Bäume von Corot, holländische Landschaften und die Sonnenblumen von Van Gogh natürlich. Diese Bilder kündeten von einer anderen Welt, und gerade auf die Landschaften und Bäume von Corot habe ich stundenlang gestarrt, wenn ich, meines Erachtens unnötigerweise, meinen Mittagsschlaf halten sollte. Weil die Welt auf Bildern so viel schöner war als "in wirklich", haben Bilder schon von ganz früh an für mich die Welt bedeutet.

So beginnt meine Kindheit am Rhein. In eine Gegenwart hinein geboren, in der Frieden etwas Neues, Kostbares war, und in der das Aufregendste die Tatsache war, überhaupt am Leben zu sein. "Schönheit" war ein Luxus. Musik, Nachrichten und Informationen gab es nur aus einer Quelle, dem Radio. Oder aus der Zeitung, die mit ihrem Titel auch schon auf den großen Strom hinwies, der nur ein paar Hundert Meter entfernt vorbeifloss. Die Rheinwiesen waren mein wunderbarer täglicher Spielplatz. Keinen Geruch habe ich mehr in der Nase als den der Luft am Fluss. Fast hätte meine Geschichte in den Wassern des Rheins ein jähes Ende gefunden.

Hier muss ich auf meinen Vater zu sprechen kommen. Nach dem Krieg bekam er in seiner Heimatstadt eine Stelle als Assistenzarzt in den Krankenanstalten, bei dem damals weltberühmten Professor Derra, einem der großen Pioniere der Herzchirurgie. Mein Vater hatte seine ganze Jugend in Düsseldorf verbracht war mit dem Fluss sehr vertraut, hatte darauf als Gymnasiast gerudert, und — das war wohl damals angesagt - ist darin auch viel geschwommen, wobei sich die Jungs von Schiffen haben stromaufwärts ziehen lassen, um sich dann stromabwärts treiben zu lassen. In meiner Kindheit war der Rhein durchsichtig bis auf den Grund. Und Vater und Sohn hatten eine Routine, dass ich auf seinem Rücken lag und mich festhielt, während er hinausschwamm, und dass ich dann auf seinem Bauch saß, wenn er sich treiben ließ.

Einmal ging diese Wende daneben, die wir ansonsten perfekt beherrschten. Meine Mutter sah den Sohn vom Ufer aus ins Wasser abrutschen, und dann tauchte der Vater hinterher. Eine Ewigkeit stand meine Mutter da und ihre beiden Männer waren weg. Sie ahnen es ja, sonst stünde ich nicht hier: beide sind dann prustend wieder aufgetaucht. Mein Vater hat mich wohl gerade noch an den Haaren erwischt. Danach gibt es nur Bilder von mir, auf denen ich traurig bis zu den Knien im Rhein stehe. Mehr war nicht mehr erlaubt. Die einzigen Ausflüge gingen an den Niederrhein zu diversen Bauernhöfen. Vater und Mutter auf Rädern, mit irgendwelchem Familienschmuck in der Manteltasche, um damit bei Bauern Lebensmittel zu erwerben. Zurück ging es immer vollbepackt und mein Platz wanderte vom Rücksitz auf die harte Vorderstange. Hinten drauf Säcke von Kartoffeln oder Karotten und mein Hauptnahrungsmittel: rheinisches Zuckerrübenkraut!

Damit bin ich großgeworden. Selbst später noch, in fernen Landen wie Kalifornien, war eine wesentliche erste Aktivität, herauszufinden, ob und wo es diesen rheinischen Süßstoff gab. Aber jetzt müssen wir doch allmählich aufs Kino zu sprechen kommen. Und hier kommt meine Großmutter in Spiel. Die Frau eines Konditors, von gleich an der holländischen Grenze. (Mein Name "Wim" kommt aus diesem holländischen Umfeld der Familie) Diese herzensgute Frau war total Kino-unerfahren, war aber diejenige, die mich zum ersten Mal ins Kino mitnehmen sollte. Dadurch wurde mein erstes Filmerlebnis ein sehr traumatisches. Meine Oma sollte mich in zu Dick und Doof mitnehmen wie es auf Deutsch heißt, also in einen Laurel & Hardy-Film. Ich war wohl fünf oder gerade sechs Jahre alt, - das war noch vor meiner Einschulung, das steht fest - und Ort des Geschehens, will mir scheinen, war das Apollo Kino.

Warum weiß ich nicht, jedenfalls hat meine Oma die richtige Kinotür verpasst. Und statt in Dick und Doof sind wir in einem Film gelandet, der schon angefangen hatte. Wir haben uns im Dunklen zwei Plätze gesucht. Meine Oma dachte wohl, es wäre alles richtig. Ich erinnere mich ab dem Moment, in dem ich Platz genommen habe, an jedes Bild dieses Films. Ich hatte vorher noch nie einen einzigen Film gesehen und keine bewegten Bilder. Ich sehe also da auf der Leinwand eine blonde, junge Frau, in einem gruseligen Haus, durch das sie voller Schrecken läuft. Sie wird von etwas verfolgt, was man nicht sieht. Mir stockt der Atem, ich krampfe mich am Arm meiner Oma fest. Die Musik lässt das Fürchterlichste ahnen. Jedenfalls findet die Frau schließlich ins Freie, ich bin erleichtert, auch die dramatische Musik lässt nach. Sie läuft durch eine lange Allee und kommt an eine Landstraße, auf der aus der Ferne ein Auto angefahren kommt. Die Rettung naht! Sie winkt, das Auto hält, die Tür geht auf, die Frau steigt hinten ein, das Auto fährt los. Es ist so ein amerikanisches Auto aus den 1940er Jahren, eine eher unheimliche schwarze Limousine mit ganz schmalen Fenstern. Dann geht diese Musik wieder los, die ich schon vorne nicht ausgehalten hatte. Ich kralle mich wieder tief in den Arm der inzwischen fassungslosen Oma, weil: jetzt kommt die Einstellung von hinten auf den Fahrer: der hat eine Kapuze an. Die Frau ist auch plötzlich wieder vor Angst erstarrt, so wie ich, und dann dreht sich der Kapuzenmann langsam um und unter der Kutte steckt nur ein Totenkopf. Woraufhin ich einen gellenden Schrei ausstoße, mich von meiner Oma löse, die die Welt nicht mehr versteht, über die Köpfe der Zuschauer hinweg krabbele, und mich von einer Reihe zur nächsten in Richtung Ausgang robbe. Nur raus hier aus diesem Horror!

Jetzt wissen Sie, warum ich also nicht David Lynch geworden bin, sondern Filme mache wie den "Himmel über Berlin", mit guten Geistern statt mit reitenden Leichen. Ich habe nach wie vor nicht die geringste Neigung, "das Böse" erscheinen zu lassen, oder schlechte Menschen vor die Kamera zu holen oder meine Zuschauer auch nur im Entferntesten zu erschrecken. Später erst lerne ich von dem Filmtheoretiker Bela Balasz die Theorie zu dem, was ich schon weiß und aus meiner Kindheit verinnerlicht habe: der Film ist die Errettung der physischen Realität der Dinge, das, was es gibt, ist schön, weil es es gibt. Die Welt ist vor allem schön, weil es sie gibt, so wie sie ist. Das Nichts, was ich so früh kennengelernt habe, sozusagen zu gut kennengelernt habe, interessiert mich deswegen nicht im Entferntesten. Das zu zeigen, ist in meinen Augen verlorene Zeit. Warum Schrecken oder Unheil erzeugen, in filmischen Bildern, wenn es auch den Trost gibt, oder Liebevolles, oder eben das Menschliche, das Einzige, das zählt, in meinen Augen jedenfalls, die so konditioniert worden sind.

Jahrelang träume ich jedenfalls danach von diesem denkbar falschem Fuß, auf dem meine Beziehung zum Kino los ging. Ich schlafe nur noch mit Licht, meine Eltern machen sich Sorgen. Mein Vater war ein großartiger Arzt und Mensch, zu dem alle Personen, mit denen er zu tu hatte, nicht nur seine Patienten, sehr schnell ein großes Vertrauen fassten. Er war mir ein einzigartiges Vorbild an Menschenfreundlichkeit, und dafür habe ich ihm sicherlich viel mehr zu danken als für die Kleinigkeit, die ich jetzt anführen will In Sorge um den plötzlich so verängstigten und verunsicherten Sohn, bringt er eines Abends ein kleines Kästchen hoch, das in einem Winkel des Kellers den Krieg überlebt hatte. Das stammte noch aus seiner eigenen Kindheit, und er freute sich so wie sein Sohn über diesen Fund oder Wiederentdeckung. Dieses Holzkästchen ließ er mich jedenfalls aufklappen und dahinter kam ein kleiner Projektor zum Vorschein, in dem selbst damals schon obsoleten Format 9,5 Millimeter. Vielleicht wissen das noch einige von Ihnen, das gab es vor den 8 Millimeter und später Super-8 Filmen, also in den 1920er und 1930er Jahren. Und das Ding ging noch, es hat eine Lampe drin, und dann musste man es nur mit der Hand kurbeln um etwas erscheinen zu lassen. Nein, nicht nur Licht. Dazu gehörte auch eine Zigarrenschachtel mit einem Dutzend kleiner 9,5 Millimeter Filme drin, allesamt noch aus der Kinderzeit meines Vaters selbst.

Das waren jeweils Einminüter, länger liefen die nicht, wenn man versuchte, einigermaßen in der richtige Geschwindigkeit zu kurbeln. Das waren Szenen mit Harald Lloyd, Buster Keaton, Mack Sennet ... auch ein paar ganz frühe merkwürdige deutsche Zeichentrickfilme über die Streiche zweier Jungs namens Fritz und Franz. Es war dieser Projektor und ein Dutzend kleiner Filme aus der Frühzeit des Kinos mit denen mein Vater das Trauma mit dem ersten Filmerlebnis irgendwie beheben wollte. Mit Erfolg: ich wurde zum Vorführer und zum Star jedes Kindergeburtstages. Sie müssen sich vor Augen halten: Das war noch vor der Einführung des Fernsehens in Deutschland! (Das passierte nämlich erst 1952.) Ich war der mit den bewegten Bildern, der Einzige mit einem transportablen Projektor. Jede Tür, jedes Bettlaken war gut genug um diese 12 Filmchen bis zum Erbrechen vorzuführen. Vorwärts und vor allem rückwärts, das war das allergrößte Vergnügen. Es kannte niemand Zeitlupe oder Zeitraffer, und es hatte noch niemand etwas rückwärts laufen gesehen, vor allem wenn das Essen wieder aus dem Mund rausgeholt wird. Also ich war, wie Sie sich vorstellen können, sehr beliebt als Projektionist, und das hat mein Leben entscheidend beeinflusst: dass es so viel Spaß machte, Leuten etwas zu zeigen, später dann nur noch vorwärts. (Wie nah das Wort "Vorführer" am anderen deutschen Wort "Verführer" lag, wusste ich damals natürlich nicht...) Weil mein Vater ein begeisterter Amateurphotograph war, der in seinen (wenigen) freien Stunden zum Leidwesen meiner Mutter das winzige Badezimmer in eine Dunkelkammer verwandelte, schenkte er mir dann auch sehr früh eine Photokamera. Ein ziemlich billiger Plastikkasten, in dem man oben reinguckte, wie in eine Rolleiflex, und mit der man alles per Hand einstellen musste, Entfernung, Blendenöffnung, Belichtungszeit. Mit all dem war ich dann bald sehr vertraut. Ich habe meine ersten Photos am Rhein gemacht, wo sonst, im Zoo in Münster, wo die meisten Tiere aber unscharf wurden, in Hückelhoven, im Sauerland in vielen Jugendherbergen, oder auf der Fähre über den Rhein bei Zons. (Brücken über den Fluss gab es damals ja noch nicht...) Ich habe bislang den Osten unseres Bundeslandes vernachlässigt, aber auch da habe ich wichtige Momente meiner Kindheit zugebracht. In Soest nämlich, und später in Paderborn. Da lebte eine wichtige Referenzperson für mich, meine blinde Tante Edi, die ältere Schwester meines Vaters, der ich viel verdanke. Als junges Mädchen erblindet, führte sie trotzdem ein so "normales" Leben, wie das nur möglich war. Sie heiratete einen blinden Mann, mit dem sie zwei sehende Kinder hatte. Bei meinem Cousin und meiner Cousine war ich des öfteren in Ferien, und eine meiner prägendsten Erfahrungen war sicherlich, wie Tante Edi mit ihrem Leben umging. Wie sie allein ihre Kinder erzog, ein Haus versorgte, Kuchen backte, Klavier spielte, einkaufen ging und überhaupt reiste. Damit wir uns schreiben konnten, hat sie mir Blindenschrift beigebracht. Zu jedem Geburtstag, wo auch immer der in der Welt stattfand, kam der "Tante Edi Kuchen". Ihr Lebensmut und ihre endlose positive Energie haben mich beflügelt und unter anderem den Film "Bis ans Ende der Welt" provoziert. Ich mache jetzt Sprünge: Volksschule in Urdenbach, eine richtige Dorfschule, wie der Name ahnen läßt, Gymnasium, traumhaft, im umfunktionierten Benrather Schloß. Dann der Umzug ins Ruhrgebiet. Für meine Mutter ein Alptraum: von Düsseldorf nach Oberhausen Sterkrade! Ich hingegen liebte das Ruhrgebiet. Ich photographierte die Industrieanlagen, malte die Zechen und Hochöfen, und wenn ich an den Sommerabenden im Bett heimlich bis mitten in der Nacht las, gehörte dazu, bei jedem Seitenumdrehen die Kohlestückchen wegzublasen, die zum Fenster reinkamen und sich sonst zwischen den Seiten festsetzten. Ich lernte erstaunlich viele Menschen mit polnischen Namen kennen, es gab italienische, griechische, jugoslawische Mitbürger, das Ruhrgebiet war, mehr als Düsseldorf, ein Melting Pot. Allesamt waren sie damals höchst willkommen, wurden freundlich aufgenommen und als Bereicherung in jeder Hinsicht empfunden. Überhaupt: die Welt war offen, auch wenn es überall Grenzen gab.

Ich bin schon früh mit dem Fahrrad bis nach Holland gefahren, (in die schönsten Museen der Welt, mit den schönsten Bildern der Welt) das war ja gar nicht soo weit, ich war auch bald schon als Schüler in Frankreich, in England, in Italien, und die Idee von Europa wurde zu meiner größten Utopie. In Nordrheinwestfalen lebte ich ja sozusagen im Zentrum eines solchen Traums von Europa. Als De Gaulle nach Köln kam, bin ich dorthin gepilgert, habe am Straßenrand gestanden und eine französische Papierfahne geschwenkt. Die Woche bei meinem französischen Brieffreund in Paris war einfach unvergesslich für mich und mir standen nur noch Augen und Ohren offen. Als Michel hingegen für eine Woche nach Oberhausen kam, traute er sich zu meiner Enttäuschung kaum vor die Tür. Er stand unter Kulturschock... Als von Jugend auf überzeugter Europäer - was konnte es schöneres geben als diese kleine, nationale Identität aufzugeben und für eine größere, offenere, weltoffenere und friedlichere einzutauschen - macht es mich heute unendlich traurig, dass das alles so leichtfertig wieder aufgegeben wird, dass längst überholte nationale Ideen und Ideologien wieder Konjunktur haben und dass es ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Fremden und Anderen gibt. Das war in Oberhausen Sterkrade nicht so.

Der beste Oberarzt, den mein Vater je hatte, war ein türkischer Chirurg, den mein Vater eingeladen hatte und der einer der ersten Ärzte war, der damals einwanderte, und mit dem meinen Vater eine herzliche professionelle Freundschaft verband. Das waren die ersten Ferien, in Holland, in denen mein Vater nicht zwischendurch für irgendwelche Notfälle zurück ins Krankenhaus reisen musste, weil Dr. Ates da war und Dienst hatte. In Oberhausen-Sterkrade gab es auch das Lito-Filmtheater. Da gab es Edgar Wallace-Filme zu sehen und amerikanische Western. Ein paar tolle Western, die mich von einem fernen Land träumen ließen, von dem mir schon Karl May erzählt hatte, als auch unsägliche Schinken, die niemand mehr kennt, "Fuzzy-Filme". Genannt nach dem Hauptdarsteller, einem Trottel namens Fuzzy...

Viel mehr gab es in Oberhausener Kinos nicht zu sehen. Bis die Oberhausener Kurzfilmtage in mein Blickfeld gerieten. Ich ging da aufs Gymnasium und diese Kurzfilmtage waren ein Grund, drei Tage die Schule zu schwänzen, regelmäßig, jedes Jahr, und für die Schülerzeitung darüber zu schreiben. Ich war zugegen beim legendären Oberhausener Manifest, 1962, als "Opas Kino für tot" erklärt wurde." Da waren berühmte Leute auf einem Podium, die haben da was vorgelesen, das hab ich alles nicht richtig mitgekriegt, weil ich zu weit in der Ecke stand, aber ich war da, ich war dabei, als Pennäler. Ich war auch dabei, als in Oberhausen ein Regisseur namens Günther Büch 1966 als Uraufführung 2 Stücke von Peter Handke inszenierte "Die Weissagung" und "Die Selbstbezichtigung", bevor, glaube ich, in Frankfurt die legendäre "Publikumsbeschimpfung" aufgeführt wurde. An dem Abend, an dem eben diese beiden Sprechstücke gezeigt wurden, war der Autor anwesend und hat nach den Stücken Fragen beantwortet. Dieser Abend hat — kann ich sagen — mein Leben verändert. Da habe ich nämlich Peter Handke kennengelernt, der damals in Düsseldorf lebte. Der hat meine dusseligen Fragen mit großer Geduld beantwortet. Und den habe ich dann ein paar Wochen später zufällig auf der Straße wiedergetroffen, auf dem Weg ins Kino. Er hat sich an den jungen Mann mit den blöden Fragen erinnert, wir wollten denselben Film gucken, das war "Rote Linie 7000" von Howard Hawks, in einem Kino am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Den Film fanden wir beide fantastisch. Danach haben wir in einer Kneipe Cola getrunken, und stundenlang die Jukebox gefüttert. Das haben wir dann oft wiederholt.

Unsere Freundschaft begann in dieser Düsseldorfer Zeit, aus der auch meine genaue Kenntnis von Italowestern herrührt. Ich hatte ein Atelier unter dem Dach eines Hauses in der Grafenberger Allee. Inzwischen wollte ich, nach einem abgebrochenen Studium der Medizin und einem nur 3-wöchigen Versuch, in Bochum Soziologie zu studieren, unbedingt Maler werden und hoffte darauf, an der Düsseldorfer Kunstakademie angenommen zu werden, auf der kein anderer als Joseph Beuys unterrichtete. Das einzige Bild, das ich allerdings jemals verkauft habe, ein Porträt von Mick Jagger, hat mir Peter Handke abgekauft, wohl eher als wohltätiger Akt denn aus Kunstbegeisterung. Abends hing ich in der Düsseldorfer Altstadt ab. Ohne mich rühmen zu wollen: ich war ein ausgezeichneter Flipper-Spieler, in jeder Kneipe stand damals noch so ein Gerät, man spielte daran gewöhnlich zu viert, und es ging jeweils um den Einsatz und um ein Alt-Bier. Ohne zu übertreiben: ich habe höchstens ein oder zwei Mal für mein Bier selbst zahlen müssen. Mein erster Kurzfilm, ein paar Jahre später hieß deswegen auch: "Same Player Shoots Again".

Tagsüber war ich auch ein paar Stunden in der Düsseldorfer Universität, wo nämlich neben der Medizin ein einziges anderes Fach gelehrt wurde, nämlich die Philosophie, für die ich mich eingeschrieben hatte, bis es zur Kunstakademie reichen würde. Da gab's ein gutes Dutzend Studenten, mehr nicht. Wir saßen in einem alten herrschaftlichen Haus in der Cecilienallee, direkt am Rhein. Das war ein traumhaftes Studentenleben. Ein Dutzend Studenten und ein Professor und ein paar Assessoren, und hin und wieder saßen wir auch alle einfach nur auf den Rheinwiesen, dachten nach und philosophierten, oder auch nicht. Außerdem hatte ich in der Zeit noch einen Gelegenheitsjob bei der Düsseldorfer Filiale der United Artists. Das war meine erste bezahlte Arbeit in der Filmindustrie. Den Job verdankte ich der Tatsache, dass ich ein Auto hatte, nämlich einen 2CV. Ich wurde von der Verleihfirma für Sondereinsätze angestellt, wenn nämlich irgendwo aus Versehen eine Kopie nicht angekommen war. Dann düste ich mit meiner tollen Kiste los. Ich erinnere mich, dass ich zum Beispiel einmal die Kopie von Die Russen kommen von Düsseldorf ins Sauerland gefahren habe, in irgendein kleines Kaff. Ich hab dort mit dem Filmvorführer den Film angeguckt, und hab dann anschließend die Kopie wieder nach Düsseldorf gebracht. Weil außer uns beiden nur noch drei zahlende Leute den Film gesehen haben, war also mein Benzin schon teurer war als die ganze Vorführung und mein Transport also ein krasses Minusunternehmen.

Aber ich hatte eine Anstellung, wie gesagt, bei United Artists, was ich deswegen toll fand, weil die ein Materiallager mit unendlich vielen Plakaten und Postern hatten, das regelmäßig entsorgt wurde, das war Teil meines Jobs, und alles was weggeschmissen werden sollte, das habe ich mit in mein Atelier genommen, was dann dazu führte, dass meine Bude bald eher so aussah, wie ein Materialnebenlager von United Artists. Ich habe diese Poster und Photos dann auch zu Collagen verarbeitet, aber dann letztendlich das auch alles entsorgt, als ich nämlich nach Paris gezogen bin. Wenn schon Maler werden, dann richtig. Noch hatte ich nämlich alle Fingerzeige in Richtung Film nicht verstanden, weder den handgekurbelten Projektor, noch meine Photo-Apparate, auch nicht meine diversen Super-8 Filme aus aller Welt, und auch keine Kinoerfahrungen. Regisseur werden zu wollen, war in diesen 60er Jahren ungefähr so unwahrscheinlich wie ... Astronaut oder Tiefseeforscher. Jetzt werde ich kursiv, Paris führte zur Entdeckung des Kinos auf einem anderen Niveau als meine Fuzzy-Filme, Italowestern und sonstigen Kenntnisse. Der Groschen fiel in der Cinemathek und durch die rund 1000 Filme, die ich mir da innerhalb eines Jahres reingezogen habe, statt zu malen. Da war dann klar: das Kino war meine Berufung, als Fortführung der Malerei mit anderen Mitteln.

(RP)
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