Bissige Zeichnerin Marie Marcks

FRANKFURT/M. Dieses Kompliment hat jede Frau schon zu hören bekommen, auch wenn es umständlich als Frage formuliert ist: "Weißt du, dass du schön bist?" Was aber, wenn die Rollen vertauscht sind, eine kecke junge Frau mit dem Kompliment einen schüchternen Kerl verführen will? Im Jahr 1974 unmöglich. Als Karikatur freilich erlaubt – Marie Marcks war schon damals der Frauenbewegung weit voraus. Sie dachte über Geschlechterrollen, Umwelt und atomare Bedrohung nach, als das noch kaum jemanden interessierte. Am 25. August wird die "Grande Dame der deutschen Karikatur" 90 Jahre alt. Und das Frankfurter Caricatura-Museum widmet ihr eine mit 372 Zeichnungen üppig bestückte Geburtstagsschau.

Die Berlinerin, seit 1948 in Heidelberg lebend, hat sich durchgesetzt. Von den 1960er bis 1980er Jahren war sie "in der Tages- und Weltpolitik, der deutschen Geschichte, der Abrüstung und Friedensbewegung einsam auf weiter Flur und bin es bis auf wenige Ausnahmen wie Hogli, Franziska Becker oder Barbara Henniger bis heute geblieben, leider. So wurde ich von der Frauenbewegung vereinnahmt".

Um in der Männerwelt überhaupt zu bestehen, signierte sie anfangs nur mit "M. Marcks", verleugnete also ihre weibliche Identität. Begonnen hatte sie vor 60 Jahren mit dem Zeichnen für einen Jazzclub. Das Zeichnen war ihr in die Wiege gelegt: Der Vater war Architekt, die Mutter leitete eine Kunstschule, ihr Onkel war der Bildhauer Gerhard Marcks.

Schon 1951 ließ sie aus Hitlers Kopf frische Eichenlaubtriebe sprießen. Dieses Wiedererstarken der Nazis beschäftigte sie, wie in der Schau zu verfolgen ist – aber viele andere partout nicht. So konnte sie ihre Skizze erst acht Jahre später verkaufen. Erst in den 1960er Jahren wurde sie bekannt, etwa mit dem Blatt eines verträumten Wissenschaftlers und einer Pusteblume. Die aber trägt statt harmloser Fallschirme kleine radioaktive Teile in die Welt. Die Karikatur erschien 1963 in der seriösen Zeitschrift "Atomzeitalter".

Doch Marcks kommt nicht mit erhobenem Zeigefinger daher, sondern erfindet unscheinbare, fast kindlich-naive Szenen – "erzungemütlich" oder "grimmige Idyllen", meint Claus Koch, der Marie Marcks einst für das "Atomzeitalter" zeichnen ließ. Doch die besten Geschichten schrieb ihr Familienleben, ein Leben mit "fünf Kindern, somit viele Jahre Ehe-/Hausfrauen-/Mutterdasein, davon etliche auch ehe- bzw. mannlos", wie sie ihre Zeit von 1944 bis 1961 beschreibt.

Ohnehin mag Marcks das schlagfertige Antworten, bei Kindern wie bei Frauen. Letztere denken einfach praktischer: Wenn etwa Atlas, der Titan aus der Mythologie, noch immer die Erdkugel auf seinen Schultern trägt, kann nur eine Frau ihm raten: "Roll doch das Ding, Blödmann!" Treffender kann man tragische Helden nicht verulken.

Dabei mutet Marcks' Strich so simpel an, dass man den ätzenden Biss erst beim zweiten Blick entdeckt. Zuweilen spürt man sogar eine leise Melancholie, wenn etwa der ältere Verehrer seiner Angebeteten ein gewagtes Kompliment macht: "Niemand welkt so schön wie du."

Info Caricatura-Museum, Frankfurt/M., bis 21. Oktober; Di.–So. 10–18, Mi. 10–21 Uhr; Katalog: 16 Euro

(RP)
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