Lese-Tipps Sommernachtstraum in Gotham City

Düsseldorf · Die New York-Romane von Ben Lerner ("22:04") und Garth Risk Hallberg ("City On Fire") erzählen vom Zustand der Gegenwart. Die Zukunft ist abgeschafft.

 Land unter in New York. Diese Aufnahme nach Hurrikan Sandy stammt aus dem Jahr 2012.

Land unter in New York. Diese Aufnahme nach Hurrikan Sandy stammt aus dem Jahr 2012.

Foto: dpa, Wang Chengyun

Der französische Schriftsteller Stendhal hat den Roman einst als Spiegel bezeichnet, der eine Straße entlanggetragen wird: Wer hineinsehe, erkenne die Gegenwart. Das Konzept ist 200 Jahre alt, aber anscheinend hat es seine Gültigkeit bewahrt, zumindest gewinnt man den Eindruck bei der Lektüre zweier neuer Romane von amerikanischen Autoren, die auf sehr unterschiedliche Weise von New York erzählen. Auch Ben Lerner und Garth Risk Hallberg tragen nämlich Spiegel durch die Straßen, allerdings sind diese Spiegel geborsten, in 1000 Teile zersplittert, und was man darin erkennt, sind lediglich Perspektiven, Eindrücke und fragmentierte Ansichten, die mühsam zu einem Bild zusammengesetzt werden müssen.

New York als Topos der Literatur ist ja ein Klassiker, die Stadt ist so voll mit Geschichten wie Mittelerde und Narnia, außerdem eignete sich die Herzkammer der westlichen Welt immer schon sehr gut, um aktuelle Diagnosen vorzunehmen. Bisher war es zumeist so, dass hier die Zukunft Gestalt annahm, in New York wurde schneller alles neu, und insofern galt die Metropole sowohl als Fegefeuer der Eitelkeiten, aber auch als Platz zum Träumen, als Wolkenkuckucksheim des American Dream: "If I can make it there / I'll make it anywhere." Das ist nun anders, und das ist denn auch das erste, was einem auffällt in Lerners "22:04" und Hallbergs "City On Fire": No Future.

Lerner ist 37 Jahre alt, er hatte erst einen Roman und zwei Gedichtbände veröffentlicht, als man ihm einen hohen fünfstelligen Vorschuss für sein neues Buch zahlte. Bei ihm ist aus der Hauptstadt des 20. Jahrhunderts die Opferstadt des 21. Jahrhunderts geworden. Sein Ich-Erzähler kreist flanierend um die Wunde der Anschläge vom 11. September, die Stadt hat sich im Katastrophen- und Untergangsmodus eingerichtet, und der Gedankenstrom der unaufhörlich aufsaugenden Ich-Maschine, aus dem dieser großartige und ultrakonzentrierte 300-Seiten-Roman besteht, ist sich jedes Textes bewusst, der bisher über New York und also über die Welt veröffentlicht wurde. Das ist die Rede eines theorieerprobten Kältetechnikers, der nur mehr beobachtet und Schlüsse zieht, der aber nicht mehr an soziale und technologische Utopien glaubt. Der Titel "22:04" zitiert den Film "Zurück in die Zukunft", dort kehrt Marty McFly um vier nach zehn aus den 50er Jahren in eine Gegenwart zurück, die eben noch Zukunft war. Diese Perspektive gibt es nun nicht mehr, die Uhr ist stehengeblieben, die Zukunft abgeschafft.

Garth Risk Hallberg geht anders vor und kommt doch zum selben Ergebnis. Auch er ist 37 Jahre alt, und sein nun auf Deutsch erschienenes Werk "City On Fire" war in den USA das Ereignis des vergangenen Literaturherbstes. Das lag auch an den spektakulären zwei Millionen Dollar Vorschuss, die der Autor für seinen zweiten Roman bekam. Auf 1000 Seiten reist Hallberg in das New York der 70er Jahre, um dort von eben den Problemen zu erzählen, die die ansonsten komplett veränderte Stadt 40 Jahre später noch beschäftigen: Terrorismus, Wirtschaftskrise, soziale Spannungen, Arbeitslosigkeit. Auch bei ihm herrscht anhaltender Ausnahmezustand, und auch sonst ist unsere Gegenwart bereits angelegt: 1977 kaufte der 28 Jahre alte Donald Trump das Commodore Hotel von der bankrotten Penn Central Transportation Company und machte daraus das 1980 eröffnete Grand Hyatt. Damit begann die Gentrifizierung, das Finanzgeschäft verdrängte das herstellende Gewerbe.

Im Gegensatz zum frei assoziierenden Lerner erzählt Hallberg realistisch, doch sein Bildungsroman wird zwecks Erhöhung der Welthaltigkeit mehrfach unterbrochen: Ein kopiertes Punk-Magazin wird eingefügt, ein Schreibmaschinenmanuskript, ein philosophischer Exkurs und so weiter. Alles ist Text, alles gleich wichtig und kaum in Form zu bringen; ein Buchstabengebirge aus reiner Gegenwart.

Im Grunde betreiben beide Autoren Gesellschaftskunde und Zeitanalyse, ihre Figuren sind Probanden. Lerner und Hallberg schreiben im weißen Kittel und benutzen New York ganz unsentimental als Labor und Druckkammer, und was sie herausfinden, klingt beunruhigend. Ihre Charaktere kennen keine Transzendenz mehr, das Leben dieses Personals hat keine Richtung. Die Zukunft als ordnendes Narrativ und als Ziel fehlt. Und dadurch ändert sich auch die Rolle der Literatur. In diesen wagemutigen und riskanten Roman-Unternehmungen wird keine Welt erschaffen. Die Protagonisten sammeln nur mehr Eindrücke, alles ist Prozess, sie sind obsessive Beobachter ihrer Umwelt. Fiktion wird zur Technik, mit der Erfahrungen geordnet werden können. Die Welt ist unlesbar geworden. "Du bist, was du wahrnimmst", heißt es bei Lerner.

Hallberg lässt seinen Roman mit einer eindrucksvollen, 140 Seiten langen Walpurgisnacht enden, dem Stromausfall vom 13. Juli 1977. Das große Dunkel ist allerdings nicht der Weltuntergang, sondern so etwas wie ein Reset-Programm. In dieser Nacht erkennen die Menschen einander, sie finden ihren Faden im Netzwerk der Geschichten und lösen die Knoten. Ein Sommernachtstraum mitten in Gotham City.

Und das ist dann auch das sinnstiftende Element und das Tröstliche an diesen klugen Büchern: Der Mensch und das Humane bleiben beständige Kategorien in einer Zeit der Auflösung. Am Ende von Ben Lerners schockgefrostetem Text kommt tatsächlich ein Spiegel vor. Dem Romanhelden gelingt es, durch sein eigenes Spiegelbild zu sehen; dahin, wo die anderen sind. Vielleicht ist genau das der Trick, um hinter die Erscheinungen zu gelangen. Insofern wird der Roman zum Reiseführer. Der letzte Satz lautet: "Ich bin bei euch, und ich weiß, wie es ist."

(hols)
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