Seine Literatur hat jetzt schon etwas Zeitloses Der lange Tod des Wolfgang Herrndorf

Reinbek · Der Roman "Tschick" machte ihn berühmt. Am Dienstag ist der Autor 48-jährig gestorben; er soll sich an einem Kanal erschossen haben.

 Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, dessen Roman "Tschick" mittlerweile Schulbuchlektüre geworden ist und hierzulande eine Million Mal verkauft wurde.

Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, dessen Roman "Tschick" mittlerweile Schulbuchlektüre geworden ist und hierzulande eine Million Mal verkauft wurde.

Foto: Mathias Meinholz

Die Verlags-Mitteilung vom gestrigen Nachmittag klang gespenstisch karg, die Nachricht vom Tode Wolfgang Herrndorfs — "in der Nacht auf den 27. . . . im Alter von 48 . . . nach schwerer Krankheit . . . wir trauern um . . ." Auf diese Weise berichtet man nicht vom plötzlichen Tod, sondern vom Ende eines langen Sterbens. Denn Wolfgang Herrndorf war ja nicht nur der populäre, hintersinnige Schriftsteller; er war früh auch schon jener, der mit einem Gehirntumor in einen tragischen Totentanz verstrickt war. Der gegen den Tod anschrieb oder ihn mit Geschichten für ein paar Seiten vielleicht vergessen machte.

In die Stille der ersten Trauer hinein meldet sich am Nachmittag die Schriftstellerin Kathrin Passig zu Wort. Auf Twitter verkündet sie das andere Ungeheuerliche: In den Abendstunden hat sich Herrndorf nach ihren Worten am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals erschossen. Die Nachricht leitet Sascha Lobo weiter und fügt lapidar hinzu: "Farewell Wolfgang".

Gedanken über die "Exitstrategie"

Den Selbstmord will niemand bestätigen; weder Rowohlt noch die Polizei. Aber Passig war Herrndorfs Weggefährtin. Welches Interesse könnte sie an einer Falschmeldung haben? Dann also doch der Tod durch die eigene Hand? Und wessen Fantasie beginnt bei diesem Selbstmord nicht tätig zu werden? Der Name Heinrich von Kleist stellt sich ein, der sich mit seiner krebskranken Lebensgefährtin Henriette Vogel 1811 am Kleinen Wannsee erschoss. Hat Herrndorf gar einen literarisch inszenierten Tod gewählt? Und ist es pietätlos, auch daran an diesem Tag zu erinnern?

Jedenfalls hat der Autor immer auch über eine "Exitstrategie" laut nachgedacht — seit vor über drei Jahren bei ihm ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert wurde. Glioblastom hieß das. Eine Heilung war ausgeschlossen, seine Möglichkeit, sich zu wehren oder irgendwie zu kämpfen, gering. Herrndorf hat darüber geschrieben, das Leben in einem Moment der Euphorie hinter sich bringen zu können. "Voraussetzung dafür war, dass zwischen Entschluss und Ausführung nicht mehr als eine Zehntelsekunde liegen dürfe. Schon eine Handgranate wäre nicht gegangen. Die Angst vor den drei Sekunden Verzögerung hätte mich umgebracht." Sterben wollte er nicht, zu keinem Zeitpunkt. "Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an fundamentaler Bestandteil meiner Psychohygiene." Ein Schlüsseltext zu den Geschehnissen des gestrigen Tages?

Die Tumorerkrankung hatte ihn kurz nach seinem Roman "Tschick" überfallen. Diesen unglaublichen Road- und Ausreißerroman über die Jugend, der so groß und so leicht und so ernst war, dass man das Buch mit "Huckleberry Finn" verglich oder Salingers "Fänger im Roggen". Das schien zwar ein bisschen hochgegriffen für die Geschichte dieses unschlagbaren Paares, des 14-jährigen Maik und seines russlanddeutschen Kumpel Andrej Tschichatschow — kurz: Tschick. Doch mit der Zeit wuchs eben auch der Respekt vor einer Literatur, die schon in der Gegenwart etwas Zeitloses zu atmen schien.

Ein Geheimtipp war "Tschick" ohnehin nicht. Schnell nistete sich das Buch auf der "Spiegel"-Bestsellerliste ein; und kürzlich wurde das millionste deutschsprachige Exemplar verkauft; in 26 Ländern ist das Buch bisher erschienen und auf 50 Theaterbühnen inszeniert worden. Die Juroren des Literaturbetriebs kamen der Euphorie der Leser kaum hinterher und beehrten den Autor mit dem Brentano- und dem Jugendbuchpreis (beide 2011) sowie 2012 mit dem Hans-Fallada-Preis. Im vergangenen Jahr gab es zudem den großen Preis der Leipziger Buchmesse. Allerdings für seinen letzten Roman, für "Sand" — eine Mischung aus Krimi und etwas Schelmengeschichte, mitunter aber schwer zugänglich. "Sand" schien man auf jeder Seite die letzte Kraftanstrengung seines Schöpfers anzumerken. Die Ehrung in Leipzig galt mehr dem Autor als den 450 Seiten.

Herrndorf hätte viele Preise dieser Welt verdient und doch keinen von ihnen gewollt, wäre er nur in der Lage gewesen, diesen Tumor im Kopf bekämpfen zu können. Er ließ sich operieren, und die furchterregenden Narben zeigte er im Internet. Aber das war keine Form von pathologischem Voyeurismus; Herrndorf schien für sich vielmehr einen eigenen Weg gefunden zu haben, dem Sterben in seinem Kopf entgegenzutreten wie einst Scheherezade aus dem Märchen von Tausendundeiner Nacht: wie sie Geschichten erzählt, um auf diese Weise den Tod abzuwenden. Solange wir erzählen, solange leben wir, lautet das grimmige Motto. Wolfgang Herrndorf hat das beherzigt und in seinem Blog "Arbeit und Struktur" — der nach seinem Willen als Buch erscheinen soll — notiert. Den Alltag, die Medikamente, die kleinen wie die großen Dinge. Herrndorf war ein Freund des Lebens, er glaubte an das Gute wie Maik und Tschick. Herrndorf war Mitglied der Fußballautorennationalmannschaft.

Die letzten Blog-Einträge:

15. Juli: "Ende der Chemo. OP sinnlos." Und: "Niemand kommt an mich heran bis an die Stunde meines Todes. Und auch dann wird niemand kommen. Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand."

16. Juli: "gehe zum See baden."

19. Juli: "Am liebsten das Grab in dem kleinen Friedhof im Grunewald . . . mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb."

(RP)
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