"Doctor Sleep" von Stephen King Kritiker feiern Fortsetzung von "The Shining"

Düsseldorf · Sowohl Film– als auch Buchfans sind begeistert: In dem großartigen Roman "Doctor Sleep" erzählt der 65-jährige Stephen King die Geschichte von "The Shining" weiter.

"Doctor Sleep": Stephen King setzt "The Shining" fort
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Sowohl Film— als auch Buchfans sind begeistert: In dem großartigen Roman "Doctor Sleep" erzählt der 65-jährige Stephen King die Geschichte von "The Shining" weiter.

Als Alice Munro jüngst der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, schüttelte der Kritiker Denis Scheck den Kopf und fragte, warum Stephen King die Auszeichnung nicht bekomme. Niemand entgegnete etwas darauf. Vielleicht, weil die Vorstellung, den 65-jährigen Autor aus Maine zu ehren, nicht so abwegig erscheint.

Vor zwei Jahren änderte sich etwas in der Wahrnehmung von Kings Werk. Er veröffentlichte den Roman "Der Anschlag", der von der Ermordung John F. Kennedys handelt. Ein Zeitreisender versucht darin, das Attentat zu verhindern. Das ist ein politisches Buch, und Rezensenten sprachen nicht mehr vom Schundautor, sondern vom Mythographen, dem Historiker des gegenwärtigen Amerikas und dem Erzähler aus der Oberliga der Großepiker.

Treffen mit einem alten Bekannten

Genau das ist er, seit seinen Anfängen bereits und nun abermals in "Doctor Sleep". Mit seinem 56. Roman setzt King seine berühmteste Arbeit fort, "The Shining" von 1977. Damals machte er die Nacht zu seiner Kunstsparte. Der Leser trifft Daniel Torrance wieder, der einst auf dem Dreirad durch die Gänge des verlassenen "Overlook"-Hotels in den Rocky Mountains fuhr und tote Menschen sah, weil er übersinnlich begabt war — er hatte das "Shining", war unser Fenster zur Hölle.

Dannys Vater Jack arbeitete als Hausmeister in dem eingeschneiten Haus, er wollte in der Abgeschiedenheit vom Suff loskommen. Wer den Roman oder die in wichtigen Details abweichende, aber ebenso wirkmächtige Verfilmung von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1980 mit Jack Nicholson kennt, weiß jedoch, dass das Vorhaben scheiterte: Dannys Vater verfiel dem Wahnsinn, das "Overlook" ging in Flammen auf; Mutter und Sohn konnten sich gerade noch retten.

Nahtloser Übergang

"Doctor Sleep" setzt direkt nach dem Brand ein. Auf den ersten 70 Seiten schildert King, was Danny seither widerfuhr, und nichts davon ist schön. Er ist Alkoholiker wie sein Vater, verzweifelt an seiner seherischen Gabe, und als die Mutter an Lungenkrebs stirbt, ist er allein. Diese Ouvertüre wirkt wie eine strenge Sozial-Reportage, King grundiert sie mit Zeitkolorit, platziert im Hintergrund Ereignisse wie Präsidentenwechsel und die Anschläge vom 11. September.

Dann erst beginnt der eigentliche Roman, nun ist da der vertraute King-Sound mit dem angenehmen Grundrauschen. Danny besucht Treffen der Anonymen Alkoholiker, wird Pfleger in einem Hospiz, wo ihm seine Fähigkeiten zugute kommen: Man nennt ihn "Doctor Sleep", weil er so einfühlsam mit Sterbenden spricht.

Kings Kollegin Margaret Atwood veröffentlichte in der "New York Times" eine hymnische Rezension des Buchs. Es besitze alle Vorzüge von Kings besten Arbeiten, schreibt sie und stellt Kings Werk in die Tradition von Poe und Henry James. Kings Personal sei Teil des kulturellen Bewusstseins, seine Texte hätten etwas Universelles. Atwood schätzt an King, dass er seine Helden nicht gegen die Furcht immunisiert.

Statt dessen schickt er sie durch Erlebnisse, die ihnen klar machen, dass sie gegen das Böse aufstehen müssen. So wird auch Danny zum Kämpfer. Das Mädchen Abra, wie er im Besitz des "Shining", bittet um Hilfe. Eine Sekte namens "Der wahre Knoten" macht Jagd auf Kinder, ihre Mitglieder versammeln sich auf dem Gelände des früheren "Overlook" und ernähren sich vom "Shining". Abra soll das nächste Opfer sein.

"Bis zum Festmahl waren es noch mehrere Monate"

King beschleunigt die Handlung mit wenigen Sätzen, er kennt alle Tricks, Gänsehaut zu erzeugen: "Sie hatten keine Eile. Es war noch viel Zeit. Bis zum Festmahl waren es noch mehrere Monate." Wichtiger als die Anbindung ans Genre scheinen King indes jene Passagen zu sein, in denen er Leben zu Literatur verdichtet. King ist mit dem Talent gesegnet, Erzähler einzuführen, denen man sich anvertraut, deren Stimme man liebgewinnt. Trotz der grausamen Handlung ist das also ein menschenfreundliches Buch, das man in der Obhut eines wohlmeinenden Führers durchwandert. Man muss lesen, wie wunderbar King die Abschiede von Danny und den Sterbenden inszeniert. Er zitiert Ezra Pound und T. S. Eliot, balanciert Melancholie und Schmerz aus.

King kann Alltägliches mit so viel Spannung beschreiben, dass man auch dann aufgeregt umblättert, wenn man einer Figur bloß beim Essen zusieht. Er zeigt, wie schön kleine Dinge sein können, dass jeder seine zweite Chance verdient. King lässt es zwischen den Zeilen leuchten, das macht seine Texte so anziehend.

"Doctor Sleep" ist ein kluger Roman. Der Autor stellt die Frage, wozu dieses Genre noch gebraucht wird. Er meditiert über Angst und Bedrohung als Grundthema unserer Gesellschaft. Man darf "Doctor Sleep" auch als Buch über Alkoholismus, als Familienroman und Reflexion über das Sterben lesen. Vielleicht ist das Kings größte Leistung: Er schafft Symbole, die helfen können, Erlebtes zu erfassen.

Was von Stephen King bleiben wird, sind nicht einzelne Bücher, sondern etwas Wirkungsvolleres: eine Haltung, Sehnsüchte und Bilder, in die andere sich hineinstellen können.

(RP)
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