Ein Jahr nach dem Tod des Autors Unser Grass

Düsseldorf · Mit seinem Tod vor einem Jahr wurde ein Typus beerdigt: der des deutschen Schriftstellers. Unser Autor blickt zurück.

Günter Grass starb mit 87 - was man über ihn wissen sollte
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Was Sie über Günter Grass wissen sollten

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Foto: afp, bb

Dass es am Mittwoch im Lübecker Grass-Haus eine Gedenkveranstaltung zum ersten Todestag des Schriftstellers geben wird, schien damals undenkbar. Damals - das war Ende März 2015, also wenige Tage vor seinem Tod. Zum Ende der Buchmesse war der Literaturnobelpreisträger für einen Tag nach Leipzig gekommen. Natürlich allein, obwohl schon 87-jährig.

Wir hatten uns in einem Frühstückslokal verabredet. Suchen musste ich ihn nicht; Günter Grass war bereits mit den Leuten an den Nebentischen in muntere Gespräche verstrickt, vermutlich über Gott und die Welt, wahrscheinlicher noch: über Politik, die Vorzüge seiner Es-Pe-De und die Unzumutbarkeit aller anderen. Grass war fidel und aufgeschlossen, putzmunter und streitlustig. Also eigentlich wie immer.

Gevatter Tod schien an diesem Morgen für den Autor einer zu sein, den man getrost verlachen konnte. Und zwar lauthals. Doch der Tod kam daheim leise und zunächst unscheinbar - in der Gestalt einer Infektion, der Grass nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Die Frühstücksszene ist für ihn typisch gewesen. Mitten im Leben und in jeder Debatte stehend. Einer, den man sofort erkannte und den man sich auch anzusprechen traute. So bekannt ist kein Nachkriegsautor gewesen. Mit Grass wurde darum vielleicht auch ein Typus zu Grabe getragen - der des deutschen Schriftstellers.

Gegen dieses Etikett hätte der Autor jetzt garantiert seine Stimme erhoben. Was das nun wieder sei, ein deutscher Schriftsteller? Er hätte es nie als Frage formuliert, sondern mit einem Ausrufezeichen. Weil Grass selten fragte, sondern meist Antworten gab. Zu seinem Schreiben und seinem Land. Das allein macht noch keinen "deutschen Autor" aus. Vielmehr hat Grass selbst deutsche Geschichte erlebt und erlitten, aber auch verantwortet.

Als Deutschland Ende der 50er Jahre noch mitten im Aufbaueifer lieber nicht zurückschaute, hat der junge Autor dies erzählend erspürt. Denn die "Blechtrommel" ist nicht nur ein Jahrhundertroman über Krieg und Nazi-Barbarei, sondern wird auch zu einer Beschreibung jener kollektiven Unfähigkeit zu trauern, die Psychoanalytiker den Deutschen erst viele Jahre später attestieren werden. Oskar, der kleinwüchsige Blechtrommler, gibt den Takt an, wenn Besucher im legendären Zwiebelkeller sich die aufgeschnittene Knolle unter die Augen halten, um sich wenigstens auf diesem Wege das eine oder andere Tränchen zu entlocken.

Grass, so schien es, war oft genug zur Stelle, wenn es in der Bundesrepublik geschichtsträchtig zu werden schien. Sein Engagement für die Sozialdemokratie führte ihn nach Warschau und ließ ihn dort 1970 Augenzeuge werden des Kniefalls von Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos.

Sein Gespür für historisch relevante, aber vernachlässigte Themen entlockte er oft seiner Lebensgeschichte. Dazu gehört das Schicksal deutscher Flüchtlinge aus dem Osten. Ein heikles Kapitel, das Grass, der gebürtige Danziger, 2002 mit der Novelle "Im Krebsgang" meisterte. Erzählt wird darin die wahre Geschichte vom Untergang der "Wilhelm Gustloff" mit 9000 Flüchtlingen im Januar 1945. Es sei ein Versäumnis gewesen, nicht über das Unrecht der Vertreibung geschrieben und damit "sträflicherweise" den Nazis überlassen zu haben, sagte er damals. Ein Ausdruck auch verdrängter und kollektiver Scham.

Sicher, das kam einer Gratwanderung gleich, wenn der Eindruck entsteht, dass im Nachgang die Rollen von Opfer und Täter vertauscht werden. Was ihm in der Novelle im Guten gelang, missglückte ihm in der Kommentierung seines Buches: So betonte er gegenüber dem israelischen Historiker Tom Segev, dass der Massenmord an den Juden nicht das einzige Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Vielmehr müsse man auch daran erinnern, dass bis zu sechs Millionen deutsche Kriegsgefangene von den Sowjets "liquidiert" worden seien.

Die größte Debatte aber stand Grass noch bevor. Das war sein spätes Bekenntnis, als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Die Empörung war berechtigt groß, nicht über die unreife Tat eines jungen Mannes, sondern über das sechs Jahrzehnte währende Schweigen eines Mannes, der sich als Aufklärer verstand und gerierte. Es folgte 2012 zudem sein israel-feindliches Gedicht "Was gesagt werden muss". Auch diesmal stand Grass in der Kritik. Aber nicht, weil es verboten sei, die Politik Israels abzulehnen. Sondern vielmehr, weil sich im Werk des Nobelpreisträgers immer wieder derartige Vorstöße finden. So attestierte der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb dem Autor eine "immer schon große Anti-Israel-Impulsivität".

Ein deutscher Schriftsteller? Im Leipziger Café vor gut einem Jahr baten die Gäste noch um ein Autogramm - in Ermangelung eines Buches ruhig auf die Serviette. Grass tat ihnen den Gefallen. Unprätentiös. Entspannt. Unglaublich, dass er wenige Tage später gestorben ist.

(los)
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