Interview mit Jeffrey Archer "Ich wäre dumm genug, mit Ihnen zu tauschen"

Der britische Autor Jeffrey Archer war Spitzenpolitiker, Pleitier und Knastbruder, begann in höchster Geldnot zu schreiben – und hat mehr als 300 Millionen Bücher verkauft. Ein Gespräch über alles mit einem 77-jährigen Jungen.

  "Ich warte nicht, bis mich die Muse küsst!" — Bestseller-Autor Jeffrey Archer (77) mangelt es nicht an Selbstvertrauen.

"Ich warte nicht, bis mich die Muse küsst!" — Bestseller-Autor Jeffrey Archer (77) mangelt es nicht an Selbstvertrauen.

Foto: Andreas Bretz

Sie arbeiten gerade an Ihrem 24. Roman, aber Autor aus Berufung sind Sie nicht. 1974 haben Sie bei einem riskanten Investment viel Geld verloren, und Ihre vielversprechende Karriere als konservativer Politiker dazu. Was hat Sie geritten, ausgerechnet als Autor Geld verdienen zu wollen?

Ich war mir sicher, dass mein Debüt ein Bestseller werden würde. Stattdessen gingen zunächst nur 3.000 Stück über die Ladentheke. Als Taschenbuch verkaufte es sich aber tatsächlich viel besser, 25.000 Exemplare allein im ersten Monat. Der Durchbruch kam mit meinem dritten Buch "Kain und Abel" über zwei Erzfeinde. Das hat sich bis heute 33 Millionen Mal verkauft, und irgendwie ging es immer so weiter.

Sind Sie noch aufgeregt, wenn Sie aktualisierte Verkaufszahlen zu sehen bekommen?

Oh, ja, ja, natürlich! Wer das nicht ist, kann einpacken. In meinem neuesten Buch "Heads You Win" geht es um ein russisches Wunderkind, das im Jahr 1968 aus Leningrad fliehen muss, nachdem der KGB seinen Vater ermordet hat. Der Junge hat die Wahl, sich aus dem Land schmuggeln zu lassen — nach Amerika oder England. Deshalb wirft er eine Münze; Kopf oder Zahl? Dieses Buch hat nicht nur einen einfachen oder doppelten, sondern einen dreifachen Twist! Die vom Verlag sagen, das sei das Beste, was ich seit "Kain und Abel" geschrieben hätte. Die Journalisten hat das nicht beeindruckt: "Ist doch klar, dass Ihr so etwas sagt", meinten sie. Und darauf die vom Verlag: "Vielleicht, aber wird haben die Startauflage verdoppelt." Das kann man nicht wegdiskutieren.

Ihre Werke drehen sich auffällig oft um Menschen, die sich nach Rückschlägen wieder aufrappeln. Klar, dass Ihnen das am Herzen liegt...

Ja (lacht). I‘ve been there, done that... — Das hab‘ ich hinter mir.

Sogar mehrmals. 1999 zogen Sie Ihre Bewerbung als Bürgermeister von London zurück, als herauskam, dass Sie im Prozess um einen Sexskandal gelogen hatten. 2001 mussten Sie wegen Meineids und Justizbehinderung ins Gefängnis. Fragen Sie sich je, was gewesen wäre, wenn…?

Natürlich, jeder tut das. Aber was wäre denn wohl aus mir geworden? Ein Verkehrsminister vielleicht, an den sich niemand erinnert. Stattdessen bin ich aus dem Parlament geflogen und habe meinen Debütroman geschrieben. Und anstatt Bürgermeister von London zu werden, habe ich die siebenbändige "Clifton-Saga" geschrieben. Beides hat mein Leben zum Besseren verändert. Man muss aufpassen, dass man sich nicht bemitleidet dafür, dass man irgendetwas getan oder nicht getan hat. Zurückblicken ist schon okay, aber immer nur für ein paar Sekunden.

Aus Ihrer Position lässt sich das leicht sagen. Wie sind Sie durch die Tiefen gekommen?

Ich war mir immer sicher, dass ich alles durchstehen würde. Und die schlechten Zeiten stählen dich. Jeder, der etwas erreicht hat, hatte auch harte Zeiten. Meine gute Freundin Margaret Thatcher hätte beinahe ihren Sitz im Parlament verloren, dann wäre sie nie Ministerin geworden und Premierministerin schon gar nicht. Zweitklassige Männer hatten lange mehr Erfolg als sie. Aber jeder wird einmal zu Fall gebracht. Wichtig ist, wie man damit umgeht. Das definiert Sie.

Was haben Sie in Ihren schlechten Zeiten gelernt?

Wer meine wahren Freunde sind. Es wäre einfach gewesen, mich fallen zu lassen. Aber drei Tage nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis 2003 hat mich Margaret Thatcher zum Mittagessen eingeladen, und zwar an einem Tisch in der Mitte des Ritz. Ein Mitglied der königlichen Familie hat dasselbe getan, zwei Tage später. Damit wollten sie eine Botschaft senden, und die ist angekommen. Das hat mir geholfen. Und wenn ich ein böser Mensch wäre, hätten sie es nicht getan.

Das alles haben Sie literarisch verarbeitet.

Ja! Ich kann Geschichten erzählen, wie andere Ballett tanzen oder die Geige spielen. Das ist meine Gabe. Und mir fliegt das Material zu. Andauernd sammele ich Szenen, Charaktere, Schauplätze. Und trotzdem muss man verdammt hart arbeiten, schwitzen und nie mit sich zufrieden sein. Jedes Buch habe ich vierzehn, fünfzehn Mal überarbeitet. Eigentlich war ich ja fertig mit "Heads You Win", nach zwei Jahren. Aber ab morgen werde ich es nochmal überarbeiten. Das wird vielleicht vier Tage dauern, und vielleicht werde ich nur ein Wort pro Seite ändern, oder eins pro Doppelseite.

Aber Sie können mir nicht erzählen, dass Sie das Buch deshalb nochmal neu per Hand schreiben.

Nein, aber bei den ersten drei Entwürfen tue ich das. Das dauert 50, 30 und 15 Tage. Das Ergebnis lasse ich abtippen, und dann mache ich meine Korrekturen mit einem Staedtler-Bleistift, Staedtler-Radiergummi und Staedtler-Anspitzer. Das sind einfach die besten. Und auch das Buch wird gut. Es ist jetzt schon gut. Falls ich morgen sterbe, könnten sie es so herausbringen.

Dann dürfte es sich auch noch besser verkaufen.

Na, vielen Dank! (lacht laut) Aber Sie haben ja völlig Recht. Stephen Hawkings Buch ist nach seinem Tod in allen Bestseller-Listen an die Spitze geschossen.

Sie leben in einem Haus namens "Old Vicarage", dem nicht nur ein eigener Wikipedia-Eintrag gewidmet ist, sondern auch ein Gedicht von Rupert Brooke. Geht es noch britischer?

Nein, das Haus ist wunderbar, es liegt in einem lieblichen Örtchen nahe Cambridge. Wir zogen 1979 dorthin, als meine Frau Dozentin in Cambridge wurde. Inzwischen sind wir leider nur noch selten da, weil Mary Vorsitzende des Wissenschaftsmuseums in London ist, das jedes Jahr von 4,1 Millionen Menschen besucht wird... (unterbricht sich selbst). Weshalb ist eigentlich Ihr Englisch so gut?

Wir schweifen ab zu meinem Schüleraustausch in Neuseeland, er schwärmt von Land und Leuten dort, "auch wenn sie dem Rest der Welt fünf Jahre hinterherhinken", wie er amüsiert anmerkt. Etwa eine Minute plaudern wir entspannt. Dann plötzlich verlangt er unmissverständlich: "On, on!" — "Weiter im Text!"

Mir ist eine Kuriosität aufgefallen. Ihr Haus ist von 1685, ist also 333 Jahre alt. Und die Zahl Ihrer verkauften Bücher dürfte inzwischen bei ziemlich genau 333 Millionen liegen.

Ja, das könnte hinkommen… (schüttelt den Kopf). Das ist doch vollkommen verrückt. Der Erfolg bleibt abstrakt, bis dich jemand auf der Straße auf eine deiner Geschichten anspricht. Zahlen sind bedeutungslos.

Aber imposant. Allein in Indien sind Ihre Bücher in sechs Sprachen erschienen.

In einer davon wurden aber nur 1.500 Bücher verkauft. (lacht) Man muss sich mal vorstellen: 273 Millionen Inder lesen englische Bücher. Damit ist Indien ein größerer Buchmarkt als die USA. Aber Indien ist mir ein Rätsel. Ich war schon ein Dutzend Mal dort, aber ich verstehe dieses Land nicht.

Sie sind kein Liebling der Kritiker. Einer schrieb, Ihre Charaktere als hölzern zu bezeichnen, sei „eine Beleidigung des Schreinerhandwerks“…

(lacht nicht ganz überzeugend) Das muss 30 Jahre her sein! Aber dieses Schicksal teilt jeder Autor. Man muss darüber lachen und immer weiter schreiben. Und wer auch immer das geschrieben hat, ist heute vermutlich tot. Mir hingegen geht‘s prächtig! Außerdem muss ich sagen, die Kritiker sind in den vergangenen zehn Jahren wirklich milder mit mir geworden, teils geradezu schmeichelhaft. Mancher nennt mich den "neuen Dickens"…

Ihre Erfolge stellen sich fast schon mechanisch ein, aber Sie arbeiten auch sehr diszipliniert.

Ich glaube, das liegt in meiner Natur. Vollends angewöhnt habe ich es mir als Sportler; in meinen Studententagen war ich 100-Meter-Läufer. Da gab es einen festen Rhythmus: Training, Training, Wettkampf, Training, Training…

Sie arbeiten in vier 2-Stunden-Schichten, angetrieben von einer riesigen Sanduhr. Auf den Kuss der Muse warten Sie offenbar nicht.

Nein, nein! (zieht eine Grimasse und macht eine abwehrende Handbewegung). Das ist etwas für Leute, die keine Geschichte zu erzählen haben!

Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?

Ich habe einfach bloß die Gabe, ein Storyteller zu sein. Was wollen Sie denn hören? Dass da ein Baum steht, ganz am Ende meines Gartens, und dort ein Haufen Geschichten vergraben ist? Ich kann es nicht erklären. Wie schießen Fußballer ihre Tore? Man steht davor und fragt sich ‚Wie hat er das bloß gemacht?’

Manchmal denkt man sich aber auch: 'Das hätte selbst ich gekonnt...' Sie schreiben über die ewigen Themen: Freundschaft und Verrat, Liebe und Tod… Sie haben nicht gerade das Rad neu erfunden.

Das stimmt schon. Aber es reicht eben nicht, gebildet und belesen zu sein und schreiben zu können. Sie müssen die Leser in Ihren Bann ziehen mit der Story, die auf das ‚Es war einmal...’ folgt.

In dem Gedicht über Ihr Haus ist mir eine Zeile besonders ins Auge gesprungen: „Is there Beauty yet to find?“ — „Gibt es eigentlich noch Schönheit?“. Das frage ich jetzt Sie.

Die Weltlage ist tatsächlich deprimierend. Als großer Freund der europäischen Idee habe ich gegen den 'Brexit‘ gestimmt, entsprechend enttäuscht bin ich. Aber es gibt so viele Herausforderungen: Jahrhundertelang waren Kriege formale Angelegenheiten. Heute gibt es Selbstmordattentate, Menschen werden auf der Straße mit Nervengift getötet. Es gibt keine Regeln mehr. Donald Trump wurde zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, obwohl er nicht einmal wusste, wer, was oder wo der Kongress und der Senat sind. Oder eher: Er wurde gerade deshalb gewählt. Das ist doch Wahnsinn! Politik sollte von Profis gemacht werden, genau wie Medizin. Es liegt wirklich vieles im Argen. Aber ich selbst kann mich nicht beschweren, ich führe ein tolles Leben mit vielen Privilegien. Nur in Ihrem Alter wäre ich gern noch mal.

Würden Sie mit mir tauschen? All Ihre Erfolge und Ihr Vermögen aufgeben, um noch einmal jung zu sein?

Oh ja! Die meisten in meiner Lage würden überhaupt nicht daran denken. Aber ich wäre dumm genug, mit Ihnen zu tauschen: ‚Noch eine Runde, bitte!’ (lacht) Was für ein Gedanke...

Zurück zur Politik: Erinnert Sie Angela Merkel an Ihre langjährige gute Freundin Margaret Thatcher?

Ja, Ihr Deutschen habt Glück mit Merkel. Sie ist eine bemerkenswerte Frau. Ich sehe viele Ähnlichkeiten zwischen ihr und Margaret. Beide wollen nur eines, nämlich das Beste für Ihr Land. Merkel ist pragmatisch, denkt langfristig. Ich habe keine Ahnung, wie lange sie sich noch an der Macht halten kann: Zwei Jahre, vier, sechs? Jedenfalls gefällt ihr der Job, sie will ihn nicht abgeben. Genau wie Margaret Thatcher. Dass sie am Ende rausgeworfen wurde, hat ihr gar nicht geschmeckt. Wie auch immer, Merkel ist jedenfalls die Vernünftige in einer ganzen Reihe gefährlicher Männer: Trump und Putin, aber auch Erdogan und Kim Jong Un…

...und Mark Zuckerberg…

Ja, der auch. Ein seltsamer Mann. Ich kenne ihn nicht, aber er kommt sehr seltsam rüber. Und falls die Anschuldigungen stimmen, dass er weltweit Wahlen beeinflussen kann, dann ist er auch sehr gefährlich.

Die US-Präsidentenwahl war eine als Drama getarnte Tragödie.

Ja. Für Trump hätte ich nie gestimmt, aber Hillary Clinton war auch keine besonders appetitliche Alternative. Wenn Bernie Sanders sich gegen Clinton durchgesetzt hätte, hätte er vielleicht auch Trump geschlagen. Meine Agentin hat Sanders‘ Großbritannien-Reise organisiert. Sie sagt, er sei umwerfend charismatisch und ein brillanter Redner, der sein Publikum in der Hand hat.

Ihre Frau hat einmal gesagt: ‚Wir sind alle Menschen, aber Jeffrey ist menschlicher als die meisten.’ Was meinte sie damit?

Mary ist eine bewundernswerte Frau, eine der klügsten Großbritannien überhaupt. Sie sieht, wie viel ich noch erreichen möchte, dass ich nicht vom Gas gehe. Seit der Veröffentlichung von ‚Kain und Abel’ hätte ich nicht mehr arbeiten müssen, das war vor 40 Jahren. Ich habe so ein Glück mit Mary. Viele meiner Freunde sind inzwischen bei der dritten oder vierten Frau angekommen, und sie sind darüber bankrott gegangen — nicht nur finanziell. Ich hasse es, auch nur 30 Sekunden ohne Mary zu sein. Sie kann ruhig hundert Meter entfernt sein, aber ich muss wissen, dass sie da ist. Frauen sind besser als wir Männer, kritischer, sorgfältiger, geduldiger. Sie werden die Welt übernehmen. Falls sie es nicht tun, dann nur, weil sie nicht wollen.

Mit dem Verweis auf Ihre Menschlichkeit könnte Ihre Frau auch gemeint haben, dass Sie sich hier und da eine Abkürzung gönnen. Über die Jahrzehnte hat sich eine Reihe von Beschwerden über Sie angesammelt. Da ist die Rede von gefälschten Papieren, um in Oxford zugelassen zu werden bis hin zu finanziellen Unregelmäßigkeiten…

Ach, es wird viel geredet. Mich juckt das nicht. Man lernt, damit zu leben. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Meine Buchhaltung war stets korrekt, das für wohltätige Zwecke gesammelte Geld kam an, wo es sollte.

Sie sind inzwischen 77 Jahre alt und haben viel erlebt. Was raten Sie jungen Menschen?

Tu, was du liebst und zieh Kinder groß — das ist schön und manchmal auch schrecklich, aber meistens wirklich schön. Und wenn du irgendwann Lust bekommst, etwas anderes zu tun, dann hab auf jeden Fall den Mut dazu! Wer weiß, vielleicht steckt in Ihnen ein fantastischer... Tiefseetaucher!?

Wurmt es Sie, dass Sie keine Literaturpreise gewinnen?

Nein. Ich weiß, dass ich keine Chance auf den Literatur-Nobelpreis habe. Ich bewundere, wie Stefan Zweig oder Joseph Roth ihre Geschichten komponieren, und inzwischen verstehe ich sogar, wie sie es tun — aber die Falten, die dieser Vorhang wirft, und die Lichtstimmung in diesem Raum… das könnte ich nicht über drei Seiten beschreiben. Oder vielleicht könnte ich es doch, falls mein Leben davon abhinge. Der Punkt ist: Ich will es überhaupt nicht. Ich will eine Geschichte erzählen, die dich immer weiter lesen lässt, eine weitere Zeile, eine weitere Seite, einen weiteren Band… Und beides geht eben nicht, viel verkaufen und Preise gewinnen. Wer wird heute noch gelesen? Hans Christian Andersen, Alexandre Dumas, Charles Dickens. Nicht die Gewinner der großen Literaturpreise. Sondern die großen Geschichtenerzähler.

Wo wird Ihr neues Buch in den Bestsellerlisten landen?

Entweder auf der 1 und es bleibt dort lange, oder auf der 1 und rutscht dann ab. Du weißt nie, wie es kommt. Zumal fast zeitgleich Bücher von Stephen King und John le Carré erscheinen werden.

Aber Sie sind sich sicher, dass Ihres kein Flop wird.

Absolut. Ich weiß, dass es auf Platz 1 landen wird. Aber das liegt nicht daran, dass ich so ein Angeber bin. Ich kenne bloß die Zahl der Vorbestellungen.

(tojo)
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