Buch-Kritik Margriet de Moor: Sturmflut

Samstag, der 31. Januar 1953 ist es, als sich von Grönland her Richtung Westeuropa ein kleines Tief in Bewegung setzt. Armanda sollte ihren alljährlichen Pflichtbesuch bei ihrem Patenkind in der niederländischen Provinz Zeeland machen. Spontan bittet sie ihre Schwester Lidy, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht, diesmal für sie zu reisen. Sie selbst will derweil Lidys zweijährige Tochter Nadja hüten und mit Lidys Mann Sjoerd auf ein Familienfest gehen.

 "Sturmflut" von Margriet de Moor

"Sturmflut" von Margriet de Moor

Foto: Hanser

An diesem Tag bricht ein historisches Unwetter los. Fast 2.000 Menschen sterben, der Südwesten der Niederlande wird von der Landkarte (als Lesehilfe im Buchdeckel abgedruckt) gefegt. Auch Lidy wird nicht zurück kehren. Sie hat sich auf die Reise gefreut, auf die Freiheit, allein mit dem Auto unterwegs zu sein. Auf dem Weg regnet es, im Radio wird eine Sturmwarnung durchgegeben. Aber, obwohl sich keine Ebbe einstellen will, die Wetterexperten vor Hochwasser warnen, ahnt niemand, was auf die Insel Schouwen-Duiveland zukommt - eine riesige schwarze Wasserwalze, die Deiche zerstört, Städte überflutet, hunderte von Toten fordert. Auch auf dem Bauernhof, wo Lidy sich befindet, gibt es kein Entrinnen, das Haus wird von der Flut weggerissen, Lidy und mehrere Leidensgenossen werden weggespült und ertrinken. Lidy gilt danach als vermisst und man findet sie nicht.

Für Armanda wird die Suche nach der Schwester zum Hauptinhalt ihres eigenen Lebens. Dieses Leben pendelt sich zwar allmählich ein: Nadja wird von ihrem Vater und den Großeltern betreut. Sjoerd und Armanda kommen sich näher, entfernen sich wieder von einander, heiraten schließlich. Sie ziehen Nadja groß und bekommen zwei weitere Kinder - und trennen sich.

Nach Jahrzehnten findet man Lidy. Ihre Knochen stecken im Schlick fest und sind konserviert worden. Sie werden zwar nicht zweifelsfrei identifiziert, eine goldene Trachtennadel, die dabei gefunden wird, lässt den Leser aber ahnen, dass es Lidy ist.

Am Schluss halten die Schwestern Zwiesprache: Die kurz vor dem Tod stehende Armanda spricht mit der toten Lidy: Viel zu viel habe sich von Lidy in ihr angehäuft, sagt Armanda. Ihretwegen habe sie nie sein können, wer sie wirklich war. Sie hat das Leben ihrer Schwester gelebt - sie sagt es, ohne es ihr vorzuwerfen. Sie frotzelt sogar, sie habe den Gatten offenbar nicht gut verwaltet, immerhin habe er sie verlassen.

Was Margriet de Moor dem Leser mit "Sturmflut" anbietet, ist eine unglaublich schöne Geschichte. Geschickt erzählt: Das kurze Leben von Lidy und das lange von Armanda - letztlich ein einziges Leben. Obwohl der Leser ziemlich schnell ahnt und dann auch weiß, dass Lidy nie zurück kehren wird, ist das Buch hoch spannend. Aber weit davon entfernt, ein ordinärer Krimi zu sein. Es ist eine Schwesterngeschichte, eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine Liebes- und eine Familiengeschichte, geschrieben in einer wunderbar reichen und präzisen Sprache, fein gesponnen und gewoben zu einem Geschichten-Teppich - zu einem höchst beglückendes Leseerlebnis.

(AP)
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