Interview: Lutz Seiler Mauerfall auf der Mütterstation verschlafen

Düsseldorf · Lutz Seiler war vor allem als Lyriker bekannt. Bis er mit 51 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte. "Kruso", der von den letzten Tagen der DDR erzählt und auf der Ostsee-Insel Hiddensee spielt, wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2014 hoch dekoriert. Jetzt stellte Seiler sein prämiertes Werk im Kuppelsaal der deutschen Bank in Düsseldorf vor.

 Lutz Seiler: Träger des Deutschen Buchpreises 2014.

Lutz Seiler: Träger des Deutschen Buchpreises 2014.

Foto: dpa, ade sab

Wie lebt es sich als Autor, der laut Auslobung des Buchpreis-Wettbewerbs den besten deutschsprachigen Roman des Jahres geschrieben hat?

Seiler Nach meinem Begriff von Literatur kann es den besten Roman gar nicht geben. Dennoch unterwirft man sich der Prozedur dieses Wahlverfahrens, weil es ja doch eine Werbung für die Literatur ist.

Sie sind vor "Kruso" vor allem als Lyriker bekannt gewesen. Wie kam es zu diesem Gattungswechsel?

Seiler Das war ein langer Prozess. Ich habe 1985 mit Gedichten angefangen und dann 20 Jahre nur Lyrik geschrieben, obwohl ich immer auch Lust hatte, in Richtung Prosa zu marschieren. Aber die Gedichte haben mich immer wieder eingefangen, weil sie mir als die spannendere Gattung erschienen. Und bei meinen ersten Erzählungen habe ich gemerkt, dass mir dieses Schreiben liegt. Vor vier Jahren sagte ich mir, jetzt möchtest Du die große Form und habe im Sommer 2010 mit der Arbeit an "Kruso" begonnen.

Ist der Mauerfall vor 25 Jahren so historisch geworden, dass er - wie in Ihrem Roman - nur eine dezente Randerscheinung der Literatur sein kann?

Seiler Ich habe nicht gedacht, dass ich über den Mauerfall schreiben würde. Ich glaube auch nicht, dass "Kruso" ein Wendebuch ist. Es ist ein Abenteuerbuch und in erster Linie die Geschichte einer Männerfreundschaft. Aber mir ist schon klar, dass der von mir beschriebene Untergang der Gaststätte "Klausner" auf Hiddensee eine Parabel ist auf den Untergang der DDR. Aber es stand nicht im Vordergrund; und ich habe das Buch auch nicht auf dieses Jubiläum hingeschrieben.

Lässt es sich mit zunehmender historischer Distanz denn leichter mit dem Thema umgehen?

Seiler Ja; nur so habe ich einen Roman zur Zeit des Mauerfalls schreiben können, in dem der Mauerfall praktisch nicht vorkommt. Alle Leser wissen, was zu dieser Zeit passiert; aber die Hauptfigur verschläft das Ereignis und versteht erst drei Tage später, was passierte. Darin besteht das Neue: Dass man jetzt über die Zeit schreiben kann, ohne beispielsweise an den Demonstrationen zu kleben. Es muss nichts mehr erklärt werden. Wobei das historische Ereignis niemals ausgeschrieben sein wird. Es kommt immer darauf an, was man daraus macht.

Wo waren Sie, als die Mauer fiel?

Seiler In Leipzig bei meiner Freundin im Studentenwohnheim - auf der sogenannten Mütter-Etage. Dort waren die Studentinnen untergebracht, die bereits ein Kind hatten. Und da die Kinder Ruhe haben sollten, gab es dort kein Radio und kein Fernsehen. Wir sind an dem Tag zeitig ins Bett gegangen und wurden erst wach, als jemand über den Flur lief und schrie: Die Mauer ist auf. Und dann erwachte die ganze Mütter-Etage.

Und dann wandelte sich Ihr Leben? Ihre Mutter riet Ihnen, wie früher auf dem Bau zu arbeiten, zumal sie noch ihr ganzes Werkzeug hatten.

Seidel Das war natürlich niederschmetternd für einen, der Dichter sein wollte. Aber es gab für viele erst einmal die existenzielle Verunsicherung. Man hat ordentlich gestrampelt, um Boden unter den Füßen zu spüren. Ich habe sogar daran gedacht, eine Doktorarbeit zu schreien, um an der Universität Geld verdienen zu können. Der Familienrat hat dann aber beschlossen, dass ich keine Doktorarbeit schreiben muss, wenn ich pro Woche Tausend Mark verdiene. Und das konnte ich auch als Kellner. Ab 1994 klappte es dann aber auch mit dem Schreiben.

Die Begegnung mit den Gedichten von Georg Trakl war dabei für Sie eine Art Initialzündung?

Seiler Ich wusste, hier wird etwas ausgesprochen, und ich möchte gern ein Teil dessen sein. Ein großes Erlebnis war für mich aber zunächst die Begegnung mit der Literatur überhaupt während der Armeezeit. Ich habe ja erst spät angefangen zu lesen. Während meiner Kindheit und Jugend hatte ich kaum mit Literatur zu tun.

(RP)
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