Peter Härtling im Interview "Gerade für Kinder ist Flucht ein Thema"

Düsseldorf · Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse ist Härtlings neues Buch "Djadi" erschienen. Es erzählt von einem afghanischen Jungen in Deutschland. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über Flucht und Vertreibung und die aktuelle Flüchtl

Peter Härtling ist der große alte Mann der deutschsprachigen Jugendliteratur. Mit nahezu allen großen Literaturpreisen ist sein umfangreiches Werk ausgezeichnet worden. Und immer wieder hat sich der heute 82-Jährige dem Thema Flucht und Vertreibung gewidmet - wie in den Büchern "Gegen den Wind" und "Krücke". In seinem neuen Roman hat er sich wieder dicht an die Gegenwart herangeschrieben: In seinem neuen Buch "Djadi" erzählt er von einem unbegleiteten, minderjährigen Jungen aus Afghanistan und seinem langsamen Einleben in die deutsche Gesellschaft.

Beruht Ihr neues Buch über die Aufnahme eines unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlings auch auf eigenen Erfahrungen?

Härtling Zum einen bin ich ja selbst Flüchtlingskind und habe meine beiden Eltern im Zweiten Weltkrieg verloren. Zudem ist mein Sohn Kinder- und Jugendpsychiater. Um das Buch dann auch schreiben zu können, habe ich Unmengen an Fachliteratur gelesen. In einem der Bücher bin ich auf den Namen Djadi gestoßen. Und ich wusste sofort, jetzt habe ich ihn. Da war er also.

Sie haben immer wieder in Ihren Jugendbüchern über die Not von Flucht und Vertreibung geschrieben. Das Thema scheint Sie nie wirklich losgelassen zu haben.

Härtling Das ist einfach ein Thema, das in unsere Zeit gehört. Wie tief die Wunden und wie traumatisch die Versehrungen noch immer sind, zeigt die folgende Geschichte: Eine Frau aus Nürtingen, dem Städtchen, in dem ich aufgewachsen bin, rief mich an und sagte mir, dass der Friedhof dort jetzt planiert würde. Weil so lange keine Trauer halten würde, wie die Planeure ihr sagten. Doch sie hat nach dem Grab meiner Mutter suchen lassen und die Grabstelle mit Hilfe des Ordnungsamtes dann auch gefunden. Dort wollte sie einen Stein errichten und bat mich um eine Inschrift. Ich riet ihr, es ganz einfach zu machen und zu schreiben: "Zum Andenken an Erika Härtling (1911-1946) und in Erinnerung an alle Flüchtlingsfrauen der letzten beiden Jahrhunderte." Etwas später meldete sich die Frau wieder bei mir und sagte, dass dort am Grab jetzt immer frische Blumen liegen. Da ist mir wirklich klar geworden, dass sich über die traumatischen Verletzungen ein großer Bogen schlägt.

Würden Sie das als eine Ihrer wichtigsten Aufgabe beschreiben - an die traumatischen Erfahrungen der Menschen in und mit Ihren Büchern zu erinnern?

Härtling So ist es. Ich halte das auch vor notwendig. Meine Kinder sehen voller Schrecken die Fernsehbilder von den Kriegen in der Welt und fragen mich dann immer, wie es bei mir gewesen ist. Und wenn ich dann erzähle, bekommt der abstrakte Vordergrund der Fernsehbilder sofort einen unglaublichen realen Hintergrund.

Wie sind Sie damals selbst als Flüchtling kurz nach dem Krieg aufgenommen worden?

Härtling Ganz schlecht. Eigentlich wurden wir behandelt wie die sogenannten Zigeuner.

Sie haben also nicht die Erfahrungen machen dürfen, die der jugendliche Held Ihres Romans, Djadi, in der Wohngemeinschaft macht?

Härtling Nein, überhaupt nicht. Ich habe dem Djadi darüber hinaus eine der großen Erfindungen und Errungenschaft seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts geschenkt - die Wohngemeinschaft.

Ist Ihr Roman auch eine Art moderner Bildungsroman, in dem der Junge sich eine vollständig neue Welt aneignen muss?

Härtling Ja, wobei Bildung ein heikler Begriff ist. Ich würde von einem Lebenslern-Roman sprechen.

Ist das Thema der aktuellen Flüchtlingskrise schon ein literarisches Thema geworden? Und zudem geeignet für Kinder und Jugendliche?

Härtling Ich halte es für absolut notwendig, dieses Thema jetzt auch für Kinder aufzugreifen. Denn ein größerer Teil der Flüchtlingskinder wird im Land bleiben und sich hier integrieren. Darum ist es jetzt so wichtig, dass die Ströme unserer Erfahrungen hin- und herlaufen.

Wird sich unsere Gesellschaft durch die Migration nachhaltig verändern?

Härtling Ich finde die ganze Diskussion im Grunde aberwitzig. Seit 1945 erlebt Mitteleuropa eine konstante Umschichtung - vor allem Deutschland. Aber bislang klappte es; all die neuen Menschen, Kulturen und Sprachen wurden praktisch - wie bei einem Mischmetall - amalgamiert.

Was haben Sie gedacht bei den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Wir schaffen das."

Härtling Das war ein unglaublich schöner Satz. Natürlich war er ein Ausruf der Hilflosigkeit. Aber ein Ruf der aufgeschlossenen Hilflosigkeit - im Sinne von: Wir kriegen das schon hin.

(los)
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