Rezension Einstürzende Fassaden

Düsseldorf · Der Supermarkt als solcher ist ein Diorama des Lebens. Zwischen Käsetheke und Dosenerbsen treffen alle sozialen Schichten aufeinander. Es spielen sich Dramen ab, deren Protagonisten die Anonymität inmitten der Warenregale mit Intimität verwechseln. Es ist kein Wunder, dass Yasmina Rezas Roman "Glücklich die Glücklichen" gerade hier beginnt: In einem Supermarkt, mit Odile und Robert Toscano.

Der Supermarkt als solcher ist ein Diorama des Lebens. Zwischen Käsetheke und Dosenerbsen treffen alle sozialen Schichten aufeinander. Es spielen sich Dramen ab, deren Protagonisten die Anonymität inmitten der Warenregale mit Intimität verwechseln. Es ist kein Wunder, dass Yasmina Rezas Roman "Glücklich die
Glücklichen" gerade hier beginnt: In einem Supermarkt, mit Odile und Robert Toscano.

Wer Rezas Theaterstück "Der Gott des Gemetzels" kennt, weiß, dass sie in einer Situation völliger Banalität Menschen die Masken herunterzureißen pflegt und tiefe Abgründe offenbart. So auch hier: Streitet sich das Ehepaar Toscano zu Beginn nur um die richtigen Süßigkeiten für die Kinder, entwickelt Reza daraus eine Krise, die die Innenansicht der Beziehung und die Agonie des Protagonisten Robert Toscano offenbart, der an seiner Ehefrau verzweifelt. Als an der Käsetheke der Streit schließlich eskaliert und Robert versucht, Odile die Tasche mit dem Autoschlüssel zu entreißen, ist es fast so, als stünde der Leser selbst hinter den Streitenden. Unfähig den Konflikt nicht neugierig zu beobachten und doch peinlich berührt von der plötzlichen Intimität. Genau das ist es, was Rezas Erzählweise auszeichnet. "Mir bleibt keine andere Wahl. Ich werde brutal. Ich presse Odile gegen das Plexiglas und versuche, mir einen Weg in die Handtasche zu bahnen, sie wehrt sich, sie beschwert sich, ich täte ihr weh." Mit derartigen Sätzen schafft sie eine Nähe, die dem Leser zusetzt.

Schmerz, Agonie, Hoffnung, das alles erzählt Reza so plastisch aus der Sicht ihrer Protagonisten, dass man sich den Stimmungen nicht entziehen kann. In 21 kurzen Episoden schickt sie den Leser in das Leben unterschiedlicher Charaktere, die sich fast alle aufeinander beziehen. Sie funktionieren jedoch auch für sich allein, präsentieren sie doch trotz ihrer Kürze eine Momentaufnahme von drückender Intimität.

Wie die Episode des Onkologen Philip Chemla, der schöne Arzt, der nur für seine Patienten lebt, von ihnen bewundert und verehrt wird. Diese Fassade wird eingerissen, als Chemla von seiner Homosexualität erzählt, die er nur in Erniedrigung und Anonymität ausleben kann: "Zwischen all den anderen Imperativen, leck mich, schlag mich, küss mich, steck mir deine Zunge rein (viele tun das nicht), kann man sich tröste mich nicht vorstellen. Was ich wirklich will, kann ich nicht äußern". Auch das mit den Toscanos befreundete Ehepaar Pascaline und Lionel Hutner scheint in ihrem plakativem ehelichen Wohlergehen auf den ersten Blick die Kontrafaktur der Ehe von Odile und Robert. Doch auch ihre Episode bringt den Abgrund hinter der heilen Außenansicht ans Licht.

Es ist eine Demontage, die Reza hier betreibt. Sie lässt ihren Protagonisten nicht die schützende Fassade, sondern reißt sie ein, zeigt die charakterlichen Abgründe und manchmal auch die Tristesse menschlicher Existenzen. Und so ist "Glücklich die Glücklichen" auch ein Lehrstück darüber, wie das Glück des Anderen, doch
eigentlich nur eine Maske ist. Viele Episoden fesseln, bewegen und erstaunen den Leser, ob des voyeuristischen Gefühls, das einen beschleicht. Andere wiederum haben Längen und wirken künstlich gezogen. Die Menge der Protagonisten macht es zudem mitunter schwierig, die auftretenden Charaktere miteinander in Verbindung zu setzen. Wer kein gutes Namensgedächtnis besitzt, sollte also einen Stift zur Hand nehmen.

Diese bedrückende Sammlung als Lesespaß zu bezeichnen, wäre missglückt, denn die Episoden bieten mit ihren Charakterstudien keine Erbauung. Sie ernüchtern und bestürzen. Doch zeigen auch immer Momente des Glücks, wie Robert Toscano im Streit mit seiner Ehefrau: "Aber ich mag es, wenn Odile so ist. Und ich sehe sie
gerne lachen." Die Geschichten sind ein wenig, wie das Leben selbst: von trauriger Schönheit.

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