Rezension Kurze Augenblicke im Leben anderer

Düsseldorf · Der Anfang: Odile Toscano ist wütend, Robert Toscano weiß seine Wut nicht in die richtigen Worte zu fassen. So viele Emotionen stecken in diesen aneinandergereihten kleinen Geschichten, dass man am Ende des Buches beinahe selbst wütend ist.

Aber nicht wegen der Personen. Nicht wegen der Handlung. Sondern wegen der legeren Art, mit der Yasmina Reza einen Einblick in die Leben so vieler Figuren gibt und einen dann abrupt mit Kapitelende wieder herausreißt. Und im Ungewissen lässt, ob es noch einen weiteren Auftritt des Paares Toscano oder einer seiner Mitstreiter im Kampf um das miserabelste Leben gibt.

Wie ein Konkurrenzkampf um unangenehme Situationen, wie ein Theaterstück der Emotionen in ihrer wahren Form und Lebensweise. Es gibt Frust, es gibt Traurigkeit, es gibt Wut, es gibt Unverständnis. All das in Dialogen, die beim Lesen fesseln. Unglaublich fesseln. Allerdings in der Art und Weise, dass man selbst glücklich ist, nicht in derselben Situation zu stecken. Man wird hineingezogen in das Eheleben von Paaren, das Leben einzelner Personen, von Geliebten und Verstorbenen. In den Dialogen, den Diskussionen, Streitigkeiten, Wutausbrüchen geht es aber nicht um die Worte, die gesagt werden. Die sind Mittel zum Zweck. Es sind nicht einmal immer die Themen wichtig. Unter allem ist etwas Anderes zu spüren, unter der Oberfläche werden die Worte unwichtig.

Weil das, was eigentlich dem Gegenüber mitgeteilt werden möchte, viel weiter reicht. Aber versuchen es zu erklären bringt ja eh nicht mehr. Sich ständig zu wiederholen bringt nichts mehr. "Na los, spul deine Litanei ab." Es wird ja eh nicht verstanden.

Es ist schwierig, diese Lektüre aus der Hand zu legen, wenn man den Anfang des Buches liest. Aber wenn dann die angenehme Kürze von fast 200 Seiten umgeblättert ist, sitzt man doch genauso da wie vorher.

Bleiben wird nur dieses unangenehme Gefühl, das sich als einziger wirklicher roter Faden unter den Konversationen durch das Buch zieht. Der Faden ist all das Unangenehme: Dinge, die falsch gelaufen sind in der Vergangenheit, das Steckenbleiben in schlechten Gewohnheiten und Lebensweisen, Dinge, die man nicht ändern kann. Das verbindet alle diese Personen wirklich miteinander.

Nicht, dass alle Leben an gewissen Punkten aufeinander treffen oder sich kreuzen. Auf der Beerdigung von Ernest Blot mögen sich gewisse Personen treffen, aber die Verbindungen sind so minimal wie möglich, verwirrend minimal. Genau wie die Kürze der Kapitel: Augenblicke in den Leben der Figuren, einmal blinzeln, und das Kapitel ist zu Ende. Und dann wird man in das Leben einer anderen, einer weiteren Person geworfen. Kein Überblick kann sich entwickeln. Keiner persönlichen Perspektive kann lange genug gefolgt werden.

Wie eine Busfahrt mit einer lauten Menge streitender Menschen. Zu schnell steigen alle ein und aus. Manche kennen sich, grüßen sich, andere rennen gegeneinander, keifen sich an. Das Einzige, was alle Mitfahrer verbindet ist der Bus. Und dieses nagende Gefühl im Magen, dass die Busfahrt kein gutes Ende nimmt. Das Ende des Buches dann ist wie die ersehnte Station, an der man aussteigen und all dem endlich entfliehen darf.

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