Die 100 schönsten Romane Platz 9: "Secondhand-Zeit"

Düsseldorf · Wie die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch das Leid einer Epoche literarisch dokumentiert: Der Roman "Secondhand-Zeit" steht auf Platz 9 der 100 schönsten Romane, zusammengestellt von RP-Kulturredakteur Lothar Schröder.

Wer ihr das erste Mal begegnet, traut ihr das alles gar nicht zu: dass sie aus ihrer weißrussischen Heimat geflohen ist und dass sie in Paris, Stockholm und Berlin leben musste, ehe sie vor vier Jahren wieder nach Minsk zurückkehrte. Weil dort eben die Menschen leben, über die sie schreibt. Zwar werden ihre Bücher in der Heimat weder gedruckt noch verkauft; doch publiziert sie die meisten ihrer russischen Texte wenigstens auf ihrer Internetseite. Kostenlos. Diese bewegte Lebens- und Publikationsgeschichte ist Swetlana Alexijewitsch nie anzumerken - in ihrer Zurückhaltung, ihrem unscheinbaren Auftreten, ihrer leisen Stimme. "Anmerkung einer Normalbürgerin" heißt es zum Schluss eines ihrer Bücher.

So ist die 57-Jährige auch in ihren Werken nicht als beherzte Kämpferin oder gar Revolutionärin erkennbar. Denn die Barrikade, so schreibt sie, sei ein gefährlicher Ort für einen Künstler, eine Falle geradezu. "Dort verdirbt man sich die Augen, die Pupille verengt sich, die Welt büßt ihre Farben ein. Dort ist die Welt schwarzweiß." Viel eher ist sie eine schonungslose Chronistin der russischen Seele und die für mich beeindruckendste Dokumentaristin eines Volkes und seiner Epoche.

Eine Sachbuchautorin also? Mit keiner Zeile! Alexijewitsch sammelt die Stimmen der Menschen, die sie zu einem Mosaik komponiert und verdichtet, fast wie auf einem dieser wimmeligen Bruegel-Bilder. Sie hat Frauen befragt, die im Zweiten Weltkrieg kämpften; sie hat von Soldaten ihres Landes erzählt, die nach Afghanistan geschickt wurden und in Zinksärgen heimkehrten; sie reiste in die verstrahlte Zone rund um Tschernobyl und verfasste das Leben der dort noch lebenden Menschen als eine finstere "Chronik der Zukunft".

Auf Platz neun meiner Liste aber steht Swetlana Alexijewitsch mit ihrer "Secondhand-Zeit" aus dem Jahr 2013. Ein fast 600 Seiten starkes Werk, mit dem sie noch einmal die russische Seele erforscht. All die befragten Menschen werden bei ihr zu Sandkörnern der Geschichte. Dieses Buch ist ein Totentanz, in dem die Blicke immer nur nach hinten reichen, nie aber in die Zukunft. Und in der Gegenwart thront siegesgewiss der Kapitalismus, der - weil sich für viele nichts anderes anbietet - die Identität ersetzt hat.

Für Alexijewitsch ist die vermeintliche Freiheit in ihrem Land im Gewand der Konsumfreiheit gekommen. Vieles gerät somit zu einem Leben aus zweiter Hand, das bei manchen das Bedürfnis nach der Sowjetunion weckt, bei anderen nach dem Kleinbürgertum. Es ist ein Zeitalter der Ideenlosigkeit, das Swetlana Alexijewitsch beschreibt. Große, kleine Welt; große, kleine Sorgen. "Secondhand-Zeit" ist eine ungeheuerliche Inventur unserer Gegenwart.

Diskutieren Sie unter dem Hashtag #schroeders100 bei Twitter mit dem Autor Lothar Schröder (@daszweitgesicht) und anderen Literaturfans: Welcher Roman gehört unbedingt in die Top100? Welcher wird Ihrer Meinung nach überschätzt?

(RP)
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