Manuskript galt als verschollen USA debattieren über Fortsetzung von "Wer die Nachtigall stört"

New York · "Wer die Nachtigall stört"- Harper Lees preisgekrönter Roman über Rassismus und soziale Spannungen soll nach über 50 Jahren eine Fortsetzung bekommen. Kritiker und Freunde der mittlerweile 88-jährigen Autorin bezweifeln jedoch, dass sie der Veröffentlichung des lange verschollenen Manuskripts wirklich bewusst zugestimmt hat.

 Die 88-jährige Autorin Harper Lee (Archivbild).

Die 88-jährige Autorin Harper Lee (Archivbild).

Foto: ap

Ein Cover gibt es schon. Auf blauem Grund ist darauf ein dunkler Baum mit gelben Blättern zu sehen, aus der Ferne kommt ein Zug. "Go Set a Watchman" hat 288 Seiten und das in den USA für den 14. Juli angekündigte Erscheinen des Buches mit einer enormen Startauflage von rund zwei Millionen Stück soll, so der Verlag, nicht weniger als ein "historisches literarisches Ereignis" werden.

Fortsetzung gilt als "bewegend, lustig und fesselnd"

In Deutschland wird das Buch am 17. Juli unter dem Titel "Gehe hin, stelle einen Wächter" bei der Deutschen Verlags-Anstalt erscheinen. "Bewegend, lustig und fesselnd" sei das Werk, kündigen die Herausgeber vom HarperCollins-Verlag an - aber der Grund für all die Aufregung ist vor allem die Autorin: Die 88 Jahre alte Harper Lee hat bislang nur ein einziges Buch veröffentlicht, den Pulitzer-Preis-gekrönten Roman "Wer die Nachtigall stört".

Das 1960 erschienene Werk über Rassismus und soziale Spannungen im Süden der USA in den 1930er Jahren gehört zu den wichtigsten und bekanntesten Büchern des 20. Jahrhunderts und verkaufte sich weltweit mehr als 40 Millionen Mal. Eine Verfilmung mit Gregory Peck gewann 1963 drei Oscars. "Go Set a Watchman" sei bereits in den 1950er-Jahren geschrieben worden, habe dann aber als verschollen gegolten und sei nun wieder aufgetaucht, heißt es beim Verlag.

Lee gilt als gesundheitlich stark angeschlagen

Ein weiteres Buch von Lee wäre für die Literaturwelt eine Sensation und für den Verlag wohl eine Goldgrube - aber mit der Ankündigung im Februar meldeten sich sofort auch Zweifler. Die 88-jährige Lee lebt seit Jahrzehnten sehr zurückgezogen in ihrem Heimat-Bundesstaat Alabama und gilt als extrem medienscheu. Bei ihren wenigen öffentlichen Auftritten hatte sie die Aussicht auf eine Fortsetzung von "Wer die Nachtigall stört" stets energisch zurückgewiesen.

Gegen eine Biografie war Lee 2011 mit Anwälten vorgegangen. Seit einiger Zeit lebt die Schriftstellerin zudem in einem Pflegeheim und gilt nach einem Schlaganfall 2007 als gesundheitlich stark angeschlagen. Hat sie wirklich bei vollem Bewusstsein der Veröffentlichung eines zweiten Buches zugestimmt, dessen Manuskript sie vor mehr als einem halben Jahrhundert verfasst und dann nach Ablehnung eines Verlages abgelegt hatte?

Absolut, sagt der Verlag HarperCollins. "Überrascht und erfreut" sei Lee gewesen, als ihre Freundin und Anwältin Tonja Carter das verschollen geglaubte Manuskript von "Go Set a Watchman" wiederentdeckt habe. Die anstehende Veröffentlichung geschehe mit dem vollen Einverständnis der Schriftstellerin und stimme sie "geehrt und verblüfft".

Als sie "Go Set a Watchman" damals beim Verlag einreichte, habe ihr der Lektor zu einer Überarbeitung geraten, zitiert HarperCollins die Autorin weiter. So sei "Wer die Nachtigall stört" entstanden. In "Go Set a Watchman" blickt die Hauptfigur Scout in den 1950er Jahren als Erwachsene auf ihre Kindheit zurück.

Freunde zweifeln an bewusster Zustimmung Lees

Zahlreiche Freunde und Bekannte von Lee bezweifeln jedoch, dass Lee mit der Veröffentlichung wirklich einverstanden ist. Die Autorin sei oft "in ihrer eigenen Welt", sagte der mit ihr befreundete Historiker Wayne Flynt der "New York Times". "Welches Buch?", habe sie ihn jüngst gefragt und dann gesagt, sie sei sich "nicht mehr so sicher" wegen der ganzen Sache.

Die Autorin Marja Mills, die Anfang der 2000er Jahre einige Monate neben Lee und ihrer inzwischen gestorbenen Schwester Alice lebte und darüber ein Buch schrieb, meldete ebenfalls Zweifel am Geisteszustand der preisgekrönten Schriftstellerin an. "Sie weiß von der einen auf die andere Minute nicht mehr, was sie jemandem gesagt hat", zitierte Mills Alice Lee. "Alles, was sie hört, überrascht sie, weil sie sich an nichts mehr erinnert."

Sogar der Bundesstaat Alabama hat sich in die Debatte eingeschaltet.
Nach einem anonymen Hinweis untersuchten die Behörden, ob Lee ausgenutzt und manipuliert wurde, konnten aber kein Vergehen feststellen.

Buch soll Heimatstadt Aufmerksamkeit bringen

In Lees kleinem Heimatstädtchen Monroeville mit rund 6000 Einwohnern wünschen sich viele endlich ein Ende des Streits. Er mache sich Sorgen, dass die Diskussion einen Schatten auf das literarische Erbe der Schriftstellerin werfen könnte, sagte der Präsident des Regionalverbands Monroe County Commission, Greg Norris, der "New York Times". "Ich verstehe nicht, warum die Menschen immer so negativ sind. Wir sind eine arme ländliche Gemeinde und dieses Buch wird uns wieder auf die Landkarte setzen."

(dpa)
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