Das eiskalte Genie Robert Schumann

Neue Forschungen werfen ein düsteres Licht auf den jungen Komponisten: Vor der Hochzeit mit Clara Wieck hatte er mehrere Geliebte gleichzeitig. Eine verstieß er, weil sie zu arm war. Einer anderen machte er ein Kind und ließ die junge Frau dann sitzen - sie starb wenig später. Und die junge Clara belog und betrog er nach Strich und Faden.

Genies leiden angeblich nur selten unter Versagensängsten. Sie empfinden sich, so glauben viele, als das Maß aller Dinge und als den Nabel der Welt; ihre Selbstsicherheit gleicht Trompetensignalen, keine Erbse Zweifel liegt unter ihrer Matratze. Ein krasses Exemplar des Wissens um den eigenen Rang war der britische Schriftsteller Oscar Wilde, den einmal ein ausländischer Zollbeamte fragte: "Haben Sie etwas zu deklarieren?" Wildes Antwort: "Nein, nur mein Genie!"

Bei dem Komponisten Robert Schumann war das anders. Bei ihm, so schien es, klebten Ängste wie Algen am Schiffsrumpf seines Lebens. Sie umschlangen die Schrauben des Vorwärtskommens, sie verursachten Korrosion, immer stärker bremsten sie das Arbeitstempo. Von Robustheit keine Spur. Früh schon zeigte sich, dass eins der größten Genies der Musik im Alltag oder beim Komponieren von "bösen Geistern" geplagt wurde. Regelmäßig klagte Schumann über Halluzinationen, Verwirrtheit und dunkle Mächte. Er war eigenbrötlerisch und ging launisch mit seiner Umwelt um. Vielleicht unterhielt gerade diese seelische Unrast das Feuer seiner Genialität.

Seine Zeitgenossen und die Nachwelt schrieben die wirren Empfindungen seinem labilen Gemüt zu. Schumann, das scheue, kränkelnde, ungerecht behandelte Sensibelchen - diese Charakterisierung gleicht bis heute einem Freischein, in dessen Geltungsbereich sich der Komponist fast alles leisten durfte; der Arme war ja, so glaubte man, leicht reizbar und offenbar nervlich krank. In Wirklichkeit steckte unter Schumanns Rüstung des glühenden Schwarmgeistes ein kaltes Herz. Er manipulierte seine Umgebung, log sich um Kopf und Kragen, hielt sich mehrere Liebschaften gleichzeitig, verstieß eine frühere Braut, Ernestine von Fricken, weil sie weniger vermögend war als erhofft - und mit einer Gespielin hatte er, wie wir jetzt wissen, sogar weit vor der Hochzeit mit Clara Wieck ein Kind, eine Tochter namens Ernestine. Von dem Mädchen wollte Schumann nichts wissen; die Mutter wurde mit ein paar Talern abgespeist und musste das Kind zu ihren Eltern geben, weil sie es selbst nicht ernähren konnte.

Bei Lichte besehen ist Schumann ein ebensolcher Unsympath wie Richard Wagner, bei dem das - um es vorsichtig zu sagen - sehr selbstreferenzielle Betragen allerdings seit Jahrzehnten bekannt ist. Entschuldigungen taugen indes auch bei Schumann nur mäßig. Gewiss wird unter medizinisch versierten Musikforschern seit langem diskutiert, an welchem psychiatrisch relevanten Defekt der Komponist litt: einer Depression, einer Psychose, einer Angststörung, einer Schizophrenie? Seine häufigen Selbstmord-Phantasien sind nicht aus der Welt zu schaffen; und tatsächlich unternahm er zu Karneval 1854 in Düsseldorf einen Suizid-Versuch, indem er sich in den Rhein stürzte. Nach seiner Rettung ließ er sich in die Nervenheilanstalt Bonn-Endenich einweisen.

Vielleicht handelte es sich aber auch um Selbstinszenierung, und Schumann hat die Phantome seiner Verwirrtheit kunstreich erfunden und stilisiert. In jedem Fall gab er konsequent die Rolle des Weinerlichen, der zur Hypochondrie neigte. Vor allem aber war er ein heftiger Trinker, mithin ein Alkoholiker. In seinem Tagebuch liest man regelmäßig Notizen wie diese vom 31. November 1831: "Getrunken wurde viel, namentlich Madeira." An einem anderen Tag befand er sich wie so oft "im Dusel". Den Tinnitus und das Ohrenrauschen, über das er häufig klagte, hat er sich angetrunken; Ohrgeräusche sind eine bekannte Folge von Bluthochdruck, der bei Alkoholikern häufig auftritt und als dessen Folge Schumann in den 1850er Jahren denn auch einen leichten Schlaganfall erlitt.

Der Alkohol war ihm ein traulicher Gesell, weil im Leben so manches nicht funktionierte: Das Jura-Studium war für die Katz, die Laufbahn als Klaviervirtuose musste er drangeben, und bedeutende Kollegen würdigten seinen Rang als Tonsetzer nicht. Zu den erfreulichen Konstanten seines Lebens zählte die aufrechte Liebe seiner Frau Clara. Verdient hatte er sie nicht.

Nun gerät Schumanns eigener Anteil an dieser Liebe zumal in der oft idealisierten Anbahnungsphase (junger Mann kämpft gegen den Willen ihres Vaters um die Liebe zu seiner Verlobten und muss die Eheschließung gerichtlich erzwingen), mächtig in Verruf. Der Musikwissenschaftler Klaus Martin Kopitz, der für die Sächsische Akademie der Wissenschaften an einer Edition der Schumann-Briefe arbeitet, weist nach, dass Schumann von 1835 an (dem Jahr des ersten Kusses) um die Gunst der jungen Pianistin Clara buhlte, während er ausgerechnet zu einem Zimmermädchen ein dauerhaftes sexuelles Verhältnis unterhielt.

Vor allem weist Kopitz nach, wer jene Dame namens "Christel" oder "Charitas" war, mit der Schumann von 1830 bis 1837 eine Affäre hatte: Es war die vier Jahre ältere Johanne Christiane Apitzsch, das zeitweilige Dienstmädchen seines Lehrers Friedrich Wieck. Dieses Ergebnis seiner kriminalistischen "Identifizierung" hat Kopitz soeben in Aufsatzform herausgebracht.

Schumann betrachtete Christiane Apitzsch von 1830 an als gelegentliche Sexualpartnerin, die er offenbar nach Bedarf aktivieren, abservieren und wieder in Dienst nehmen konnte. Die gemeinsame Tochter wurde am 2. Januar 1837 im Leipziger Jacobshospital geboren und in der Thomaskirche auf den Namen Ernestine getauft. Als (abwesenden) Vater nennt das Taufbuch einen "David Veit", von Beruf "Hausmann". Das ist gemäß Kopitz' Recherchen alles Phantasie der Mutter. "David" sei von "Davidsbündler" abgeleitet, wie Schumann die Mitglieder seines imaginären Künstlerbunds gern bezeichnete. Auch "Charitas" (Fürsorge) war ein Kunstname aus dem Davidsbündler-Kontext.

Natürlich ist über die Dame bislang eifrig spekuliert worden, zumal Schumann sie später als Überträgerin seiner Syphilis-Infektion (an der er in Endenich starb) direkt erwähnte. Der Musikologe Arnfried Edler glaubte, bei "Christel/Charitas" habe es sich um eine Prostituierte gehandelt; der Schriftsteller Peter Härtling führte sie in seinem Roman "Schumanns Schatten" als Kellnerin. In Wirklichkeit ging sie im Hause Friedrich Wiecks zeitweilig ein und aus, und Claras Vater wird es nicht verborgen geblieben sein, dass Robert eine Doppelneigung an den Tag legte: Zum einen machte er Clara den Hof, zum anderen stieg er Christel nach. Wie sehr die Dame über die Jahre Roberts Lust beflügelte, zeigt etwa ein Tagebuch-Eintrag vom 9. Mai 1832: "Sinnliche Anregung am ganzen Tag, aber Unterdrückung. Charitas ist schon seit 9 Tagen weggeblieben."

Dass Schumann von seiner Tochter wusste, ist laut Kopitz' kluger Argumentation unbestreitbar. Er selbst schrieb im Jahr 1838 in der Rückschau von einem Besuch bei "Charitas" und den "Folgen davon im Januar 1837". Was sollte er gemeint haben, wenn nicht die Geburt eines Kindes? Dass er sich aus der Affäre zog und sich nicht zu dem Kind bekannte, zeigt die Tatsache, dass Christiane Apitzsch in der damals obligatorischen Polizeiakte einen Vormund für ihr Baby bekam - denn ein "David Veit" war nirgendwo gemeldet, es gab ihn gar nicht.

Die letzte Begegnung mit der Geliebten ist in Schumanns Tagebüchern unter dem 27. Dezember 1837 verzeichnet. Tatsächlich starb Christiane Apitzsch kurz darauf, am 11. Februar 1838, an "Nervenfieber", wie es hieß; in Wirklichkeit war es Typhus. Am Tag ihres Todes setzte sich Schumann hin und begann die "Kinderszenen" zu komponieren. Ein Zufall?

Clara schien geahnt zu haben, dass Schumann sie betrog. In einem fast dramatischen Brief vom 13. Oktober 1837 schrieb sie ihm: "Kannst Du Deine Leidenschaft nicht bezähmen, so kann ich nie die Deine sein, dann will ich lieber einem ehelichen Glück entsagen. Also Robert, ich beschwöre Dich, das Eine - thue es nicht mehr." Robert antwortete darauf nicht, sondern schrieb in sein Tagebuch: "Dies hast Du gesagt - und ich thu es dennoch." Wahrscheinlich hat Vater Wieck gewusst, dass sein ehemaliger Schüler Robert ein Hallodri war, der aufs Geld anderer scharf war, und hat Clara vor ihm gewarnt. Ihre Liebe hat das nicht bremsen können, und es kam zu jenem unglücklichen Brautprozess, den Schumann nur gewinnen konnte, weil er das Gericht in relevanten Punkten hinters Licht geführt hatte.

Was interessierte Schumann an der neun Jahre jüngeren Clara? Sie war begehrt, er war ein Niemand. Sie war reich, er hing am Tropf des elterlichen Erbes. Sie war der Augapfel seines gehassten Lehrers. Sie hätte täglich zu neuen Reisen aufbrechen können, er sehnte sich nur nach einem "kleinen, warmen Nest". Für Clara wollte er es zum Käfig ausbauen, diese Vision hatte er schon vor der Ehe. In einem Brief schrieb er ihr im Juni 1839: "Erreiche ich nur das, dass Du gar nichts mehr mit der Öffentlichkeit zu tun hättest, wäre mein innigster Wunsch erreicht. Das bisschen Ruhm auf dem Lumpenpapier, was Dein Vater als höchstes Glück auf der Welt betrachtet, verachte ich."

Da schwingt eine lieblose Rigorosität mit, die Wiecks Lebensentwurf für seine Tochter zuwiderlief. Er wollte Clara nie vereinnahmen, sondern ihren Platz in der Welt sichern. Gewiss hatte Wieck viel Zeit und Geld in Clara investiert, doch war es sogar seine "Ehekonsensbedingung", dass "Ihr, solange ich lebe und in Sachsen wohnen bleibe, nicht in Sachsen leben wollt". Wieck war sich sicher, dass Clara in einer Weltstadt zu Hause sein musste, um ihren pianistischen Alltag und dessen repräsentative Seiten zu erfüllen. Sie selbst sah das genauso.

Deshalb exekutierte Schumann ein weiteres, diesmal privates Täuschungsmanöver. Lange signalisierte er ihr seine Bereitschaft, ein gemeinsames Leben in einer Metropole zu führen. Als der Prozess gewonnen war, brach er sein Versprechen, beide gingen ins provinzielle Leipzig, und Claras Karriere kam im Trott des Nähens, Nährens und Gebärens ins Stocken. Zehn Schwangerschaften, acht Kinder - die Pianistin blieb auf der Strecke. Von Claras frühem Nimbus etwa in Wien war für Clara 1846 bei einem Konzert kaum noch etwas zu bemerken. Zwischen Robert und Clara bestand also ein ungutes Abhängigkeitsverhältnis, wie man es von Cosima und Richard Wagner kennt - er der Titan, sie die Sekretärin und Magd.

Robert Schumann war, ist und bleibt gleichwohl eines der größten Genies der Musikgeschichte. Das Genie, jetzt wissen wir es endgültig, mit einem eiskalten Herzen.

(RP)
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