Paris Das französische Gewissen Deutschlands

Paris · Der Schriftsteller Michel Tournier starb 91-jährig. Sein Roman "Erlkönig" machte ihn weltberühmt.

Als der "Erlkönig", sein Meisterwerk, in Deutschland erschien, herrschte bei manchem Leser jene Empörung, die aus Faszination geboren ist. Wie kam der Autor dazu, dunkelste deutsche Geschichte so fantasievoll auszumalen? Wie konnte ein schlichter französischer Automechaniker Kalfaktor in Hermann Görings Jagdhaus in Ostpreußen werden? Und wie durfte es sein, dass dieser seltsame Held erst wie ein Christophorus gefallene Kinder aufliest und dann, am Ende des Romans, einen Kind mit Davidsstern vor den Nazis rettet, indem er mit ihm im Moor versinkt? Letzter Satz dieses großen Romans: "Als er ein letztes Mal zu Ephraim aufblickte, sah er nichts als einen sechszackigen Stern, der langsam im schwarzen Himmel kreiste."

Michel Tournier durfte so schreiben, weil er sich über Jahre als das französische Gewissen Deutschlands verstand. Der 1924 in Paris geborene Autor war Kind zweier Germanisten, hatte seine Ferien meistens in Deutschland verbracht und später Philosophie in Tübingen studiert, er fühlte sich dem östlichen Nachbarn und seiner Kultur innig verbunden. Er übersetzte Erich Maria Remarque ins Französische, bevor er selbst zu schreiben begann.

Gleich nahm er Kurs auf die Mythen der Menschheitsgeschichte, denn im Umgang mit Mythen wollte er sich beweisen - indem er sie zu Metamorphosen in die Moderne nötigte. Für diese kreativen literarischen Wanderungen wurde er überwältigend belohnt. Sein erster Roman "Freitag oder Im Schoß des Pazifiks" von 1967 bekam den "Grand Prix du Roman" der Académie française, dem "Erlkönig" wurde drei Jahre später sogar der bedeutendste französische Literaturpreis zuteil, der Prix Goncourt. Dieses Urteil war einstimmig ausgefallen, das hatte es in Paris lange nicht gegeben.

Tournier schrieb Texte auf mehreren Ebenen. So trägt der Held im "Erlkönig" den verräterischen Namen Abel Tiffauges. Der Vorname? Einleuchtend. Und Tiffauges? Dies ist ein Ort in der westfranzösischen Vendée, in deren Burg der legendäre Kinderschänder Gilles de Rais die Knochen seiner Opfer verbuddelt hatte; später nannte man die Burg das Stammhaus des Herzogs Blaubart. Dann rückte Tournier den heiligen drei Königen nahe; wer je seine Version von "Kaspar, Melchior & Balthasar" las, kam aus dem Lachen nicht heraus - und wurde zugleich zur Wiege der abendländischen Kunst geleitet. Über seinen geistigen Ort zwischen Frankreich und Deutschland gab Tournier beredt Kunde in seinem autobiografischen Werk "Der Wind Paraklet".

Jetzt ist Michel Tournier im Alter von 91 Jahren in Choisel gestorben, jenem Ort 40 Kilometer südwestlich von Paris, den er so liebte. Nah an Paris und zugleich weit genug weg, das war ihm wichtig. Was war ihm Paris? "Es spielt die Rolle einer Saug- und Druckpumpe, die wechselweise Franzosen aus der Provinz anzieht und wieder ausstößt."

(w.g.)
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