Lars Henrik Gass "Das kommerzielle Kino geht dem Ende entgegen"

Die 60. Kurzfilmtage Oberhausen beginnen am 1. Mai. Ein Gespräch mit Festivalleiter Lars Henrik Gass.

Die Kurzfilmtage in Oberhausen werden 60 — trotzdem zeigen Sie keine Retrospektive, warum nicht?

Gass In 60 Jahren gibt es viele Jubiläen zu feiern, vor zwei Jahren haben wir etwa an das Oberhausener Manifest erinnert. Wir wollen aber nicht alle paar Jahre auf die Festivalgeschichte zurückschauen. Sicher hat das seine Berechtigung, aber die Kurzfilmtage haben sich dem jungen Film verschrieben, das unterscheidet uns von anderen Festivals, da empfiehlt sich eher der Blick nach vorn. Wir wollen uns nicht auf den großen Namen ausruhen, sondern uns den Luxus gönnen zu vergessen.

Sie verstehen sich also als Trüffelsucher oder was ist die Aufgabe der Oberhausener Kurzfilmtage?

Gass Die Trüffelsuche ist ein gutes Bild, wenn das auch für alle Festivals gelten sollte. Es gibt für den Kurzfilm keinen Markt mehr, Vorfilme etwa werden ja nicht mehr gezeigt. Aber der Kurzfilm hat die Funktion übernommen, die Filmsprache zu erneuern. Das spiegeln wir auf unserem Festival. Wir versuchen eine Durchlässigkeit herzustellen zwischen der riesigen Masse an Filmproduktionen, die niemals öffentlich sichtbar werden, und dem kleinen Bereich, der noch kommerzielle Bedeutung hat. Wir wollen Filmemachern Öffentlichkeit verschaffen, die noch keinen Namen haben, deren Werk aber Beachtung verdient.

Schaffen zu viele Filme die Hürde in den kommerziellen Markt nicht?

Gass Ein Filmfestival hat eine homöopathische Funktion, denn die Masse der Filme wollen Sie gar nicht sehen. Festivals bieten Orientierung, indem sie behaupten, dass, was sie zeigen, sei wert angeschaut zu werden. Diese Funktion wird immer wichtiger, und nicht nur bei den Kurzfilmen, weil wir ja alle eigentlich völlig überfordert sind von der Masse an Informationen. Wir filtern und weisen auf das Wichtige hin.

Zum Jubiläum gehen Sie an die Grenze des Films und zeigen unbewegte Bilder. Wie kam es zu dieser Idee?

Gass Wir zeigen keine unbewegten Bilder, aber Kino ohne Filme. Das gründet auf einem historischen Befund: Das Kino als kommerzielle Auswertungsform von Filmen geht dem Ende entgegen. Es wird abgelöst durch andere Formen etwa im Internet durch Video on demand. Wir beobachten derzeit eine Musealisierung des Kinos. Das wäre an sich noch gar nicht zu beklagen, allerdings glaube ich, dass das Kino auch eine Kulturtechnik dargestellt hat, die es unterscheidet etwa von der Oper oder dem Theater. Im Kino werden spezifische Wahrnehmungstechniken praktiziert. Das hat uns interessiert. Wir drehen die Kamera sozusagen um und schauen in den Saal. Was unterscheidet das Kino von anderen Räumen, etwa dem Museum?

Sie sind also pessimistisch, was die Zukunft des Kinos angeht?

Gass Die Oper würde es auch nicht mehr geben, würde sie nicht subventioniert. Solche Entwicklungen stehen auch dem Kino bevor.

Aber Blockbuster spielen doch noch viel Geld ein. Erleben wir nicht vielmehr das Auseinanderdriften von Kommerz- und Kunstkino?

Gass Das kann niemand vorhersagen. Im Moment werden immer mehr Filme immer kürzer durch die Kinos getrieben, die Betreiber verdienen mehr Geld mit Popcorn, die Produzenten mehr mit Spielen und anderen Zweitverwertungen als mit dem eigentlichen Film. Das ist ein massiver Bedeutungsverlust, der über kurz oder lang nicht mehr wird ausgeglichen werden können.

Was erleben die Zuschauer in Oberhausen im "Kino ohne Film"?

Gass Kino ohne Film hat jeder schon mal erlebt, wenn Leute im Kino zu laut sprechen oder das Handy nicht ausmachen oder im Popcorn scharren. Unser Programm spielt mit solchen sozialen Phänomenen, es lässt den Film im Saal durch das Publikum entstehen. Da fliegen dann mal Papierflieger durch den Projektionsstrahl, oder es wird mit Nebel gespielt. Der Raum selbst wird sichtbar und das Kollektiv, das normalerweise den Film schaut.

Wir werden also eingeladen, über uns selbst nachzudenken?

Gass Nicht nur nachzudenken, sondern mit uns selbst zu spielen.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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