Das neue Leben des Samuel Koch

Samuel Koch wollte Schauspieler werden. 2010 verunglückte er bei "Wetten, dass..?" Seither ist er querschnittgelähmt - und ist Schauspieler geworden.

Samuel Koch liegt auf der Bühne. Reglos. Wie damals, in den Sekunden danach. Wer könnte die Bilder vergessen? Doch jetzt ruht er auf dem Rücken, den Körper gerade, den Kopf leicht abgewandt vom Theatersaal, der sich allmählich füllt. "Guck mal, da liegt er schon", sagt eine ältere Dame mit Perlenkette zu ihrer Freundin. Dann beugt sie sich zu den Sitznummern, tastet sich vor bis zu ihrem Platz. Es sind noch zehn Minuten bis zur Vorstellung in den Kammerspielen in Bad Godesberg. Die Leute reden gedämpft über Alltag. Und schauen auf einen Körper, der anders ist. Anders geworden ist. Die Beine wirken zu dünn für den Oberkörper, die Hände sind verkrampft. Die Zuschauer kennen den Grund, sie wissen, was Samuel Koch passiert ist. Sein Unfall geschah ja vor laufender Kamera in Deutschlands beliebtester Unterhaltungssendung, der Show für die ganze Familie. Sie haben miterlebt, wie aus einer Wette eine Tragödie wurde. Wie ein junger, sehr sportlicher Mann seine Unabhängigkeit verlor.

Samuel Koch mag die Minuten vor Beginn, in denen er still auf der Bühne liegt. Er konzentriert sich dann, spult im Geist durch die Stationen der Inszenierung, denkt an jeden einzelnen Mitspieler, ruft sich in Erinnerung in welcher Beziehung er zu ihm steht - gleich im Stück, wenn er spielt.

Dass ihm seine Rollen Schutz bieten, wird er später erzählen. Dass er sich in Rollen sogar wohler fühle als wenn er als Privatperson auf der Bühne sitzt und immer wieder sagen soll, wie es ihm jetzt geht, wie er verkraftet hat, was nicht zu verkraften ist. Denn in Wahrheit wird Samuel Koch natürlich nie mehr ganz in einer Rolle verschwinden. Er wird immer auch der Mann sein, der bei "Wetten, dass..?" verunglückt ist, dem etwas geschah, vor dem sich alle fürchten. Das schafft Abstand. Das weckt Mitleid. Und das ist vielleicht die unerbittlichste Form von Distanz.

Doch auf der Bühne scheint es diese seltsame Unbeholfenheit, diese wohlmeinende Verkrampftheit nicht zu geben. Seine Mitspieler heben Koch jetzt auf den Arm, geübt und schnell, halten ihn dann alle gemeinsam, ein Gruppenbild der Nähe. Koch dreht den Kopf zum Publikum. Erster Blickkontakt. Frontal. Er hat sehr blaue Augen.

"Hiob" wird gegeben an diesem Abend, die Tragödie einer armen jüdischen Familie mit krankem Kind nach dem Roman von Joseph Roth. Samuel Koch ist Menuchim, der Sohn mit Epilepsie, der von den Geschwistern gequält wird. Koch muss einen Behinderten spielen, einen, der scheinbar in seiner Welt gefangen ist, keine Sprache hat, nur das Wort "Mama". Er spielt das anrührend. Lässt erkennen, dass dieser Menuchim unterschätzt wird, dass sich in dessen brabbelnder Sprachlosigkeit ein wacher Geist verbirgt. Koch zeigt das alles allein durch seine Mimik.

Doch die Bühnengeschwister drangsalieren ihn, zerren an seinem Körper, schleifen ihn über den Boden, verbiegen ihm die Beine. Gemurmel. Das Publikum reagiert. Ein Paar verlässt den Saal. Auch bei der Premiere war das so. Da gingen gleich mehrere, beschwerten sich an der Garderobe, wie grob die Inszenierung sei. "Ich befürchte, dass die Leute nicht gegangen wären, wenn ich nicht tatsächlich versehrt wäre", sagt Samuel Koch. Und schweigt einen Moment. "Das bedeutet natürlich, dass sie mich nicht als ernstzunehmenden Schauspieler ansehen." Wieder schweigt er. "Aber immerhin haben wir die Leute bewegt - bewegt zu gehen."

Er lacht nicht über den Scherz. Es ist ihm Ernst damit. Leute bewegen, das ist ihm geblieben von der Schauspielerei. Es sei die Essenz, sagt er, aber das habe er erst einmal erkennen müssen. Denn eigentlich hatte er mit der Ausbildung begonnen, weil er sich austoben wollte. Körperlich. "Ein Hochschulstudium, bei dem auf dem Lehrplan steht: Reiten, Fechten, Steppen, Tanzen, Akrobatik fand ich faszinierend", sagt Koch. Er wollte mit seinem Körper arbeiten. Als Junge hatte er Stuntman werden wollen, weil das für ihn die wahren Helden der Filmbranche sind. Eine Weile hat er damals eine private Schauspiel- und Stuntman-Schule besucht. Die Übungen vor der Kamera, die Inszenierung des Selbst, schreckten ihn eher ab. Auch ums Berühmtwerden ging es ihm nicht. Er wollte nur raus, sich verkloppen, Treppen runterfallen, sich anzünden lassen, von Hochhäusern springen. Nach dem Unfall seien alle seine ursprünglichen Gründe für die Schauspielerei entfallen, sagt Koch. Es ist schwer, seinem Blick standzuhalten, wenn er solche Dinge sagt. Weil man ihm den Übermut von früher noch anmerkt. Und weil von dieser Lust an Bewegung, am Grenzentesten, am Draufgängertum, nichts geblieben ist. Außer, es mit dem neuen Leben aufzunehmen.

Nach dem Unfall hat Samuel Koch weiter Schauspiel studiert an der Hochschule in Hannover. Er hat sich an die Theorie gehalten, erst einmal, hat sich mit Theatergeschichte und Dramaturgie beschäftigt. Das tat ihm gut. Dann kam ein erstes Rollenangebot. "Ich war skeptisch. Ich bin immer skeptisch, wenn es um meine Auftritte geht", sagt er. Aber dann hat er ihn zum ersten Mal empfunden, den Schutz, den eine Rolle bieten kann. Davon wollte er mehr.

Es gab dann auch Fernsehangebote. Und Til Schweiger wollte ihn als Bahnschalter-Beamten für eine kurze Szene in "Honig im Kopf". Er habe Zeit gehabt, darum habe er zugesagt, erzählt Koch. Er muss genau planen, denn inzwischen ist er fest engagiert im Ensemble des Staatstheaters Darmstadt. In Bonn spielt er als Gast. Dazu kommen Lesungen, die öffentlichen Auftritte in Kirchen. Die Menschen wollen ihn sehen, wollen wissen, wie er auf sein Leben blickt. An welchen Gott er noch glauben kann. Was ihm Kraft gibt. Es könnte auch ihrem Leben Kraft geben.

Hiob hadert. Bei Joseph Roth flieht der gläubige Jude vor den Schicksalsschlägen, die seine Familie treffen, nach Amerika, doch seine Söhne ziehen in den Krieg und fallen. Das Leid bringt ihn um den Glauben. Warum ich? Die Frage kann zermürbender sein als das Schicksal. Doch dann das Wunder: Menuchim, der zurückgelassene Sohn, ist nicht tot. Er ist geheilt, ein berühmter Dirigent geworden. Samuel Koch sitzt jetzt im Samtanzug auf der Bühne, die Beine übereinandergeschlagen, die Lackschuhe glänzen im Scheinwerferlicht. Er kann jetzt sprechen, muss nicht mehr nur "Mama" sagen. Er ist jetzt stärker als sein Vater, er kann ihm verzeihen. Die Geschichte nimmt ihr wundersames Ende.

Als der Applaus beginnt, tragen die Kollegen Koch von der Bühne. Im elektrischen Rollstuhl kehrt er zurück, selbstständig. Als die anderen sich verbeugen, neigt er den Kopf. Schaut verlegen. Lächelt nicht. Meidet den Blick ins Publikum. Er hat seine Rolle jetzt verlassen. Er ist nun wieder Samuel Koch.

(RP)
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