Düsseldorf Das Schweigen der Intellektuellen

Düsseldorf · Noch nie gab es so viele Krisen in der Welt, doch die Intellektuellen schweigen. Denker von einst wie Grass oder Walser haben an Autorität verloren oder sich abgemeldet. Die Nachfolgegeneration tritt mit anderem Gestus auf.

Staaten zerfallen, Millionen Menschen sind auf der Flucht vor islamistischem Terror und eine Fieber-Epidemie könnte den Humanismus auch hierzulande bald auf eine grausige Belastungsprobe stellen. Und was sagen die Intellektuellen des Landes dazu?

Ein Schweigen scheint sich über das Land gelegt zu haben, eine neue Zögerlichkeit der Moralisten, ihre Meinung zu äußern, sich zu streiten und Bürgern Argumente zu liefern. Sind die Stimmen von einst nur brüchig geworden, oder ist die Welt von heute zu komplex?

Die Zeit der großen, väterlichen Autoritäten scheint abgelaufen. Das mag daran liegen, dass das allseits informierte Volk eine gesunde Skepsis entwickelt hat gegenüber Menschen, die sich als Weltendeuter und Meinungsmacher verstehen. Es vertraut Männern wie Günter Grass nicht mehr, seit dessen späten Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Und Frauen wie Alice Schwarzer nach ihrem Steuerskandal auch nicht.

Andere Autoritäten haben sich selbst abgemeldet. Martin Walser zum Beispiel, der sagt: "Der Meinungsstreit ist nicht mehr mein Thema. Eine Meinung provoziert eine neue Meinung, schon läuft die Meinungsmaschinerie, an deren weiterem Betrieb ich nicht das geringste Interesse habe. Das ist keine intellektuell würdige Beschäftigung." Und aus der politischen Welterklärer-Riege von Daniel Cohn-Bendit bis Joschka Fischer hat man auch lange nichts Dringliches mehr gehört.

Natürlich rückt eine neue Generation unabhängiger Denker nach. Doch die beklagt schon selbst das Vakuum intellektueller Einlassungen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer etwa, der stetig Bücher auf den Markt bringt, in denen er die Gesellschaft mahnt, über einen nachhaltigeren Umgang mit Ressourcen und alternative Lebensmodelle zu diskutieren. Welzer hält es für auffällig, dass diejenigen, die als Politikwissenschaftler oder Soziologen dazu Stellung beziehen müssten, "vornehm schweigen" und in der Republik so ein "Kommentierungsvakuum und analytisches Vakuum" entstehen ließen.

Auch politisch engagierte Autoren wie Juli Zeh, die sich etwa zu Fragen der Bürgerrechte und inneren Sicherheit vernehmlich zu Wort gemeldet hat, vermissen deutlichere Wortmeldungen ihrer Kollegen. Allerdings habe sich auch der Gestus der Einmischung verändert. "Intellektuelle haben heute nicht mehr den Anspruch auf ultimative Deutungshoheit und tragen ihre Standpunkte auch nicht mehr mit jener Selbstgewissheit und dem Narzissmus früherer Generationen vor", sagt Zeh.

Dazu habe sich das Erwartungsspektrum der Medien verändert. Bestimmte Themen wie die Zukunft Europas gelten als unsexy. "Da ist es für manche Autoren auch schwer, durchzudringen", so Zeh, "zumal, wenn sie weiblich sind und sich mit differenzierten, nachdenklichen Essays zu Wort melden wollen." Tatsächlich dringen selbst gewichtige, intellektuelle Persönlichkeiten wie der Philosoph Jürgen Habermas oder der Historiker Herfried Münkler nur mehr zu einer begrenzten Öffentlichkeit durch, wenn sie sich zu Themen wie Europa oder deutschen Militäreinsätzen äußern. Die Öffentlichkeit ist eben längst in Öffentlichkeiten zerfallen, in denen das Spezialistentum grassiert. Zugleich explodiert das Informationsangebot, buhlen viele Themen um die Aufmerksamkeit des Bürgers. Und der reagiert nur menschlich, indem er sich auf das konzentriert, was ihn eh schon interessiert. So wird aus einem Mehr an Information nicht zwangsläufig eine Verbreiterung der Interessen. Im Gegenteil: Die Überforderung macht denkfaul, viele Menschen vertiefen lieber, was sie schon kennen, sind weniger offen für die Belange aller. Und für die Botschaften derer, die zu allen sprechen wollen.

So sind heute nicht mehr Moralisten gefragt, sondern Experten. Sie werden zu allen möglichen Themen verhört und in Talkshows geladen. Mit dem Ideal des Intellektuellen hat das allerdings wenig zu tun. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat den Typus des Intellektuellen fein definiert als einen Menschen, der unabhängig ist von Politik und Ökonomie, also aus Feldern des Wissens und der Kultur stammen muss. Ferner müsse er sich dort Kompetenz erworben haben, die er auf aktuelle Fragen anwenden könne. Expertenwissen allein macht also noch keinen Intellektuellen. Er muss mutig das Ganze in den Blick nehmen wollen, allen modernen Zersplitterungstendenzen zum Trotz. Und er muss wirken wollen, über sein eigentliches Betätigungsfeld hinaus.

Es ist die alte Idee von der Unabhängigkeit und Überlegenheit der Universitäten, die in dieser Vorstellung mitschwingt. Doch haben auch die Hochschulen sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant gewandelt, sind längst keine unabhängigen Institute mehr, sondern funktionieren nach den Regeln der Ökonomie. Das verändert das Denken. Das verändert die Absolventen. Das produziert Experten, die lieber keine Intellektuellen sein wollen.

Also übernehmen engagierte Promis das Geschäft, und auf einmal reden Schauspieler wie Hannes Jaenicke den Menschen ins grüne Gewissen oder Walter Sittler tritt an die Spitze der Bürgerproteste gegen "Stuttgart 21". Sie kennen und bedienen die Ansprüche der medialen Öffentlichkeit. Das heißt, sie artikulieren Empörung, die die Mehrheit ohnehin schon empfindet über die Tötung von Affen oder den Bau eines teuren Bahnhofs. Politische Diskurse fördert das nicht. Die Arbeit der Intellektuellen ist schwieriger geworden - und nötiger denn je.

(RP)
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