Essay Das Vermächtnis des Roger Willemsen

Düsseldorf · "Wer wir waren" heißt der nachdenkliche Essay, mit dem sich der im Februar 2016 gestorbene Publizist noch einmal an uns wendet.

Er fehlt. Vielleicht nicht an allen Ecken und Kanten, wie es sprichwörtlich immer so umfassend heißt. Aber doch in vielen wichtigen Fragen zu unserer Zeit. Wie gerne hätten wir gewusst, was Roger Willemsen zu sagen gehabt hätte zu Trump, zur Flüchtlingsdebatte, zum postfaktischen Zeitalter. Die Lücke, die er auch in der Debattenkultur hierzulande seit seinem Tod im Februar dieses Jahres gerissen hat, ist jedenfalls nicht geschlossen.

Jetzt hat er sich noch einmal zu Wort gemeldet in einer postumen Schrift. Doch auch diese ist mehr ein Begleittext zu jenem Buch, das Willemsen ursprünglich schreiben wollte und es dann nicht mehr schreiben konnte. Denn als er im Sommer des vergangenen Jahres von seiner Krebserkrankung erfuhr, zog er sich kurzerhand aus der Öffentlichkeit zurück. Und er hörte mit dem Schreiben auf. Kein Wort mehr des Wortgewandten fortan. Kein Buch mehr des Vielschreibers.

Dabei hatte der damals 60-Jährige ein Projekt fest im Blick gehabt: eine schonungslose Betrachtung unserer Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft. Überliefert ist davon nur der Titel, "Wer wir waren", mit dem jetzt zumindest sein Essay überschrieben ist. Teile davon finden sich in seiner Dankesrede zur Heine-Ehrengabe, in einer weiteren Rede und mehreren Überarbeitungen. Knapp 60 Seiten sind es geworden; sie sind sein Vermächtnis.

Auch wenn Willemsen vielleicht noch anderes im Sinn hatte, es ist ein sehr kluger, weitsichtiger und zeitkritischer Text - allerdings ohne jede Larmoyanz und wohlfeilen Kulturpessimismus. Willemsen sagt das, was er sieht und was er sich denkt - und es fällt einem oft schwer, ihm zu widersprechen. Etwa in seinem Befund, wie hurtig wir uns mit den schönen neuen digitalen Lebenshilfen - beispielsweise dem Navigationsgerät - entmündigt und uns auf dem Weg zur Entzivilisierung weitergebracht haben: "Wir wurden alles gleichzeitig, souveräner und ohnmächtiger, sicherer und instabiler, zielstrebiger und zerstreuter", schreibt Willemsen. Unsere Existenzform ist nach seinen Worten die Rasanz im Modus der Flüchtigkeit. Unaufhörlich beschäftigt mit der Selbstoptimierung wird es uns fast unmöglich, in der Gegenwart anzukommen. Wir haben die Realität verloren und dafür viele Realitäten bekommen. Ob dies schon als Gewinn zu verbuchen ist, darf bezweifelt werden.

Natürlich hat es Zeitenwenden und Modernisierungsschübe schon immer gegeben. Und genüsslich erzählt Willemsen von Autobauer Gottlieb Daimler, der 1901 prognostizierte, dass der weltweite Bedarf an Automobilen eine Million nicht überschreiten wird - "allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren". Das aber war eine Zeit, in der die Zukunft bedacht und betreten wurde. Heute hingegen scheinen wir in die kommende Zeit regelrecht hineingeschoben zu werden. Empfanden sich die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als Subjekte, so greift heute zunehmend das Ohnmachtsgefühl um sich, lediglich Objekte des Weltgeschehens zu sein.

Die Moderne - die Ausdruck unserer Sehnsucht ist, in der Jetztzeit zu leben - hat Patina angesetzt. Es gab einmal diesen Standort, von dem aus über die Zukunft spekuliert werden konnte. Unsere futurologische Fantasie, so Willemsen, ist damals dem technisch Machbaren immer vorausgelaufen. Das Technik-Spielzeug der James-Bond-Filme war das "Accessoire" einer solchen, selbstbewussten Vorausschau. Auch das wilde Gestöber von In- und Out-Listen machen solche geschärften Wahrnehmungen kaum möglich. Umzingelt von "Aufmerksamkeitsherden" wenden sich die Mittel der Aufklärung gegen uns selbst. Es fehlt so etwas, was man einst Geistesgegenwart nannte.

Und ganz zum Schluss wird Willemsen hoffnungsvoll (oder er überredet sich dazu): Denn wenn wir irgendwann an die Grenzen des Erreichbaren gelangt sind, entdecken wir das Kreatürliche. Wir kehren zurück, zum Kind, zum Säugling - zum letzten kompletten Mensch. "Seine Zukunft muss ihm unvorstellbar gewesen sein. Sie ist es noch." Damit endet der Essay, der auch vor dem Hintergrund des drohenden Todes mit anderen Texten von Autoren verglichen werden kann, die in ähnlichen Lebenslagen steckten. Wie die Rede von Steve Jobs vor Stanford-Studenten. Wie auch die millionenfach verkaufte Streitschrift "Empört Euch!" des damals über 90-jährigen Stéphane Hessel.

Und nun "Wer wir waren". Dunkle Gedanken im Angesicht des drohenden Todes? Nichts leichter als das, den Essay auch so zu deuten. Und nicht fataler. Weil das nämlich nichts anderes wäre, als sein Denken und seine Moralität auf Distanz zu uns zu bringen. Das heißt auch, sie zu entschärfen.

(los)
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