Aachen Der Beichtstuhl wird zur Lustgrotte

Aachen · Mario Corradi inszeniert Wagners "Tannhäuser" in Aachen. Chor, Ensemble und Gäste überzeugen.

Eine "Tannhäuser"-Premiere am Karnevalssonntag - das Theater Aachen setzt auf den Clash der Kulturen. Dementsprechend lassen Regisseur Mario Corradi und sein Bühnenbildner Italo Grassi sich nicht lange bitten und blasen zum Sturm auf die weihevolle Geschichte um den mittelalterlichen deutschen Ritter, der sich auf der Suche nach der wahren Liebe zwischen Orgie und, sagen wir mal: Seele nicht entscheiden kann. Statt in einer spießigen Wartburg-Gesellschaft sind wir zu Gast in einer katholischen Kirche. Der Venusberg liegt gewissermaßen gleich hinterm Hochaltar.

Wagners "Tannhäuser" spielte schon in der Biogas-Anlage oder im Konzentrationslager, da ist eine Kathedrale mit lauter Kirchenmännern vergleichsweise naheliegend. Zumal Wagners Libretto nur so wimmelt von sakralen Versatzstücken. Corradis Tannhäuser ist also ein Priester, dem es neben der nickelbrillig keuschen Elisabeth vor allem Maria, die Gottesmutter angetan hat. Nachdem nun das Sakristei-Glöckchen zur Ouvertüre gebimmelt hat, die wackeren Musiker des Sinfonieorchesters Aachen von Generalmusikdirektor Kazem Abdullah euphorisiert beginnen, die Wagnerschen Klang-Ungetüme zu stemmen, steigt die Madonna leibhaftig aus dem Retabel, streift keck ihren himmelblauen Überwurf ab und schreitet fortan als Marilyn Monroe einher. Im berühmten weißen Plissee-Kleid geht's übers aufgeschlagene Messbuch hinunter auf den berühmten U-Bahn-Schacht - mit dem erwarteten Bausch-Effekt. Im Weihrauchdunst macht sich Marilyn über Tannhäuser her. Fröhliches Kopulieren auf dem Hochaltar. Corradi lässt Engel aus dem Schnürboden schweben, einen blutüberströmten Jesus sein Kreuz durch die Wartburg schleppen, Nackedeis aus Säulen hüpfen. Der Beichtstuhl wird zur Lustgrotte. Ogottogott.

Nach dem Venusberg-Akt geht es in Aachen wieder gesittet zu. Kardinal-Landgraf Woong-jo Choi lenkt bassbaritonal sonor den Sängerwettstreit, dem Verdammung, Pilgerreise und finale Erlösung folgen. Der Chor leistet Beachtliches. Nach dem nicht nur vokalen Liebesspiel mit der überzeugenden Sanja Radisic als Venus wendet sich der metallisch strahlende, nicht immer schwerelose Paul McNamara als Tannhäuser der Elisabeth von Linda Ballova zu. Die Sopranistin hat reichlich dramatische Farben, durchschlagskräftiges Metall und viele glühende Register. Sehr berückend das Lied an den Abendstern von Haus-Bariton Hrólfur Saemundsson in der Wolfram-Partie. Eindringlich McNamaras "Romerzählung".

Zum Finale streut Corradi noch ein bisschen Kitsch ins Kirchenschiff, dann jubelt das Premierenpublikum. Die Entrüstung hält sich in Grenzen.

INFO Dauer: viereinviertel Stunden, zwei Pausen, Deutsch mit deutschen Übertiteln; weitere Vorstellungen am 21., 28. Februar, 6., 13. März, 2., 24., 30. April, 16., 26. Mai. Karten unter der Rufnummer: 0241 4784-244 oder www.theateraachen.de

(RP)
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