Düsseldorf Der gute Mensch von Brandenburg

Düsseldorf · Andreas Dresen porträtiert in seinem großartigen Film "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" einen Landtagsabgeordneten aus Brandenburg. Die Dokumentation zeigt ein Leben zwischen Bürgerbüro und Kaffeetafel. Sie ist ein Lehrstück über den Einfluss des Einzelnen auf die große Politik.

Wenn die Menschen der Zukunft wissen möchten, worüber die Ahnen gestritten haben, was sie umtrieb und beschäftigte, sollten sie sich nicht alte Ausgaben der "Tagesschau" ansehen, sondern diesen Film. In der Dokumentation "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" porträtiert Andreas Dresen den Landtagsabgeordneten Henryk Wichmann aus Brandenburg. Es ist der zweite Film über den CDU-Politiker, vor zehn Jahren begleitete Dresen den damaligen Jura-Studenten bereits bei seiner Bewerbung um ein Bundestagsmandat. "Herr Wichmann von der CDU" hieß diese Produktion, sie zeigte einen Don Quichotte des Kommunalen: SPD und PDS besaßen 70 Prozent der Mandate. Der werdende Vater zog dennoch in den Kampf: "Ich will frischen Wind in die Politik bringen", lautete sein Schlachtruf. Man saß im Kino und war gerührt von der Unschuld des verhinderten Weltveränderers, von seiner Unerschütterlichkeit.

Inzwischen ist Wichmann 35 Jahre alt, Ehemann, Vater dreier Töchter. Bei der vergangenen Wahl bekam die CDU 19 Listenplätze für den Brandenburgischen Landtag. Wichmann stand an 20. Stelle. Dann entschied sich ein Abgeordneter seiner Partei, lieber einen Platz im Europaparlament wahrzunehmen. Wichmann rückte auf. Er ist nun, was er ein Jahrzehnt lang probte: Politiker. Andreas Dresen begleitete Wichmanns erstes Jahr im Landtag, zudem sein Beginnen als Fraktionsvorsitzender im Kreistag Uckermark, und was er aufnahm, dürfte das wahre Leben sein.

Wer den ersten Film sah, wird aufatmen, weil Wichmann sich im Laufe der Zeit nicht selbst abhanden kam. Er tritt morgens ins Büro, begrüßt Mitarbeiter mit Handschlag, und in seiner Beflissenheit merkt er nicht, dass die Sekretärin gar nicht grüßen kann, weil sie ein Tablett trägt. Neue Monitore werden geliefert, Allerweltsgeräte, aber er sagt: "Schön, irgendwie modern." Wichmann ist bereit, ausschließlich das Gute zu sehen, obwohl das Leben eine Zumutung ist. Es geht ihm wie dem Zuhörer einer absurden Diskussion. Er denkt, er habe den entscheidenden Gedanken, der alle Konflikte löst, die ultimative Idee. Dann spricht er sie aus, aber die Welt jubelt nicht, sondern macht weiter wie zuvor. In seiner ersten Woche legt Wichmann dem Fraktionsvorsitzenden der SPD 10 000 Unterschriften für den Erhalt der Polizeiwache in seinem Wahlkreis auf den Tisch. Wichmann schaut triumphierend in die Kamera des einbestellten Fotoreporters, aber der politische Gegner echauffiert sich nicht, gesteht keine Fehler ein, er sagt bloß: "Danke".

Nach dem ersten Film bekam Wichmann eine Interview-Kolumne in der alternativen "Tageszeitung". Darin spielte er ein wenig wohlfeil die Rolle des liebenswerten Tollpatsches. Man konnte also Sorge haben, dass er sich in der neuen Dokumentation inszenieren würde. Aber davon kann keine Rede sein. Wichmann gibt zwar wenig Privates preis, er ist kaum je Henryk, sondern stets Herr Wichmann. Doch die Maske des Staatsmanns passt noch nicht, darunter erkennt man den Menschen. Das ist ein Porträt des Politikers als junger Mann.

Vier, fünf Stunden reist er jeden Tag im Auto durch die entvölkerten Regionen des gewaltigen Bundeslands, das Handy zumeist ohne Empfang. Wenn er losfährt, ist er ein moderner Sisyphos, der einen Felsbrocken den Berg hinaufrollt. Er soll vor einer Schulklasse sprechen, er möchte den Kindern Oppositionspolitik erklären. Daran sind die Schüler indes nicht interessiert, sie wollen wissen, welches Auto er fährt und wie viel er verdient. Er besucht ein Seniorenfest, am Eingang betreuen zwei alte Damen den Stand des Roten Kreuzes, er möchte nett sein und sagt: "Viel Erfolg und gute Resonanz."

Regisseur Andreas Dresen ist unter den deutschen Filmemachern der Soziologe, seine Arbeiten "Halbe Treppe", "Sommer vorm Balkon", "Wolke 9" und "Halt auf freier Strecke" erzählen das Leben unter deutschen Dächern. Der Soundtrack von "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" ist nun das Klappern von Pressglas-Geschirr: Hierzulande kann Politik offenbar nicht gelingen ohne Kaffee in beigen Thermoskannen, Kondensmilch im Plastiktöpfchen, Keksmischung auf bunter Serviette und Brötchenhälfte mit Salatgarnitur. Politiker sind Transit-Existenzen vor immergrüner Tischlandschaft.

Dresen kommentiert nicht, er stellt keine Suggestivfragen. Kameramann Andreas Höfer benutzt sein Arbeitsgerät wie einen Magneten, kleben bleibt die Wirklichkeit. Wichmann diskutiert über Schulfrieden und Flurstücke, über Tontagebau-Restlöcher und Pestizidwerte, obwohl er lieber etwas gegen die Abwanderung der jungen Leute und die Arbeitslosenquote von fast 30 Prozent tun würde. Selbst wenn ihm jemand erklärt, dass man einen wichtigen Fahrradweg nicht bauen könne, weil sonst der Schreiadler ausstirbt, hat er sich im Griff. "Der Schreiadler hat im ganzen Land schon vieles verhindert!", schimpft er. Aber er bleibt langmütig, es nützt ja nichts.

In einer Szene gelingt es Wichmann, Ministerpräsident Matthias Platzeck abzufangen. Sie reden am Stehtisch. Wichmann argumentiert, Platzeck lächelt. Arglosigkeit gegen Routiniertheit. Zum Abschluss murmelt Platzeck: ". . . aber nur, wenn es machbar ist." Dann geht er. Wichmann nickt.

Der Stein rollt den Berg hinab. Sisyphos muss zurück ins Tal.

(RP)
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